Drachen der Finsternis
die Straßen getragen. Der König nämlich wollte die Prinzessin bald verheiraten, und die Prozession sollte einen herrlichen Auftakt darstellen für die Woche, in der er den richtigen unter den Freiern auszuwählen gedachte. Die Musiker, die nicht weggelaufen waren, spielten einen Marsch, und die Leute jubelten am Straßenrand. Doch von der Prinzessin sah der Wanderer nichts, denn die Vorhänge an ihrer Sänfte verbargen sie vor den Blicken der Neugierigen.«
Oder vielleicht, dachte Christopher, war sie unsichtbar. Die Kleider am Ofen waren jetzt fort. Dafür war die Decke wieder aufgetaucht, fein säuberlich zusammengefaltet in einer entfernten Ecke des Raumes. Wenn Jumar so weitermachte, würden Christophers Nerven den Rest der Reise nicht überleben.
»Der Wanderer jedoch kämpfte sich durch die Menge«, zischte die Alte. »Ho! Bis ganz nach vorne kämpfte er sich, schlüpfte zwischen den Soldaten hindurch, die den Umzug begleiteten, und streckte die Hand nach dem Vorhang aus – die Prinzessin sah ihn einen Moment lang an, und ihre Schönheit übertraf alles, was er sich ausgemalt hatte.
Die Prinzessin aber sah nur einen Mann in abgerissenen Kleidern und mit wirrem Haar, und sie schrie nach den Soldaten. Ehe der Wanderer etwas sagen konnte, hatte man ihn schon gepackt und grob zurückgezerrt, er stürzte zu Boden und fand sich gleich darauf alleine im Straßengraben wieder, während die Prozession mit ihren Farben und ihrer Musik in der Ferne verschwand.
Da wurde das Herz des Wanderers schwer. In der Nacht schlich er sich zum Garten des Palastes und stieg über die Mauer, und dort verwandelte er sich in eine Trauerweide, die in der duftenden Erde zwischen den Blumenrabatten Wurzeln schlug. Als die Prinzessin am nächsten Tag im Schatten jenes Baumes auf einer Bank saß, spürte sie plötzlich die Trauer des Wanderers in sich selbst, und sie begann, hemmungslos zu weinen, ohne zu begreifen, wieso. Sie konnte und konnte nicht aufhören zu weinen. Denen, die sie fragten, weshalb sie weine, konnte sie nichts erwidern. Sie weinte Tag und Nacht, und schließlich musste ihr Vater alle Freier wieder nach Hause schicken. Die Prinzessin indessen weinte weiter. Niemand vermochte sich zu erklären, wie sie so viele Tränen hervorbringen konnte. Sie weinte, bis die Wege in den Straßen der Stadt unter Wasser standen, und die Leute begannen, mit Booten von Tür zu Tür zu staken. Und auch dann hörte sie nicht auf zu weinen. Sie weinte, bis das Wasser zu den Türen und Fenstern stieg, bis die Menschen sich auf ihre Dächer retten mussten, und schließlich verschwand das ganze Land unter ihren Tränen. Dort, wo es einst lag, ist heute ein Meer, ein Meer aus salzigen Tränen. Manche sagen, die Bewohner des Landes hätten sich in Fische verwandelt, aber ich fürchte, das ist gelogen, und sie sind alle jämmerlich ertrunken. In der Mitte des Meeres gibt es eine einzige, einsame Insel, und auf der wächst eine einzige, einsame Trauerweide. Und die Seeleute, die an der Insel vorüberfahren, sagen, an windstillen Tagen könnte man sie seufzen hören wie einen Menschen.«
Die Alte verstummte und wiegte ihren Kopf nachdenklich hin und her.
»Was für ein trauriges Märchen«, sagte Jumar. »Warum muss es schlecht ausgehen?«
»Hah! Alle Märchen gehen schlecht aus«, erklärte die Alte mit einer gewissen Zufriedenheit. »Die Leute haben es nur noch nicht gemerkt. Die Märchen sind wie die Wirklichkeit. Aber jetzt ist es wohl Zeit zum Schlafen, nicht wahr?«
Die Familie rückte näher zusammen und machte ein Bett frei für den Gast, und dort lagen Jumar und Christopher bald darauf dicht aneinandergedrängt, denn es war ein schmales Bett, und es gab nur eine Decke. Christopher rutschte hierhin und dorthin, doch das Bett wurde nicht größer. Es war eine Sache, dicht an jemanden gedrängt in einer Felsengrotte an einem unterirdischen Fluss zu sitzen; so dicht zusammengequetscht in einem Bett zu liegen, war eine andere.
»Keine Angst«, flüsterte Jumar ganz leise. »Ich beiße dich schon nicht.«
Christopher knurrte.
»Weißt du, was ein Glück ist?«, wisperte er leise, ganz leise. »Dass es so dunkel ist. Die Decke und die harte Unterlage sind jetzt sicherlich unsichtbar. Oder trägst du beim Schlafen Handschuhe und Strümpfe?«
Jumar lachte leise. »Und weißt du, was ein Glück ist? Dass du kein Mädchen bist. Hast du schon einmal so nahe mit einem Mädchen zusammengelegen?«
»Bist du verrückt?« fragte Christopher
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