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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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seine Hände.
    Er brach zwei kleinere Stücke Holz ab, und Jumar stopfte den Rest in seinen Rucksack. Eine Wolke aus Wacholderduft hüllte sie für einen Augenblick ein und erfüllte Christopher mit Erin-nerungesbildern: Wacholderbeeren zur Weihnachtszeit, er war acht und durfte die Beeren im Mörser zerstoßen, ein Braten im Ofen, Arne in der offenen Verandatür, Schnee im blonden Haar, Tannennadeln an den Handschuhen, draußen der Baum.
    Das Zischen einer Flamme riss ihn zurück in die Gegenwart. Er hielt einen brennenden Ast in der Hand, und nun war der Weg vor ihnen wieder zu sehen. Jumar ging voran, seine unsichtbaren Schritte folgten einer unsichtbaren Fackel. Nur ihre Flamme flackerte in der Dunkelheit – also, dachte Christopher, zählte Feuer nicht zu den toten Gegenständen? Also lebte das Feuer, wie das Wasser? Es war, als tanzte ein Irrlicht vor Christopher her über die Ebene.
    Und dann begann das Irrlicht zu funkeln, zu sprühen – Christopher hielt seine eigene Fackel weit von seinem Gesicht fort, um nicht von den Funken getroffen zu werden. Es musste das Harz des Wacholders sein. Die Flamme, die zunächst nur gelb gebrannt hatte wie jede gewöhnliche Flamme, wirkte jetzt bläulich, nein, grünlich – oder war es rot? Christopher blinzelte, während er ihrem Licht nachstolperte. Was für ein seltsames Licht das war! War es wirklich Wacholder, dessen Holz da brannte? War es eine besondere, botanisch bislang stiefmütterlich unerforschte Sorte Wacholder? Oder nichts als ein Trugschluss seiner erschöpften Fantasie?
    Es war unmöglich zu sagen, ob die Farben in rapider Reihenfolge wechselten oder ob das knisternde Holz sie alle gleichzeitig ausspie. Ein Teil von Christopher dachte, er hätte noch nie etwas so Schönes gesehen, und ein anderer Teil bekam es mit der Angst zu tun.
    Es war, als wanderten sie im Licht eines winzigen Feuerwerks, das die Kraft von tausendundeiner Silvesterrakete in sich vereinte.
    Zuerst fürchtete Christopher, die Fackel würde zu schnell herunterbrennen und seine Finger versengen. Er hatte schon immer Angst vor dem Feuer gehabt. Doch es schien, als verbrannte nur das Harz an der Spitze des Astes, die Fackel selbst wurde kaum kürzer. So wanderten sie schweigend dahin, im Licht aller Farben des Regenbogens. Später würde Christopher oft davon träumen, und auch, während es geschah, erschien es mehr wie ein Traum.
    Irgendwann blieb Jumar stehen und wisperte: »Dort vorne, Christopher! Siehst du den Umriss? Was ist das?«
    Christopher senkte die Fackel und starrte angestrengt in die Dunkelheit.
    Ja, dort erhob sich etwas Großes, Eckiges aus der Ebene – ein Felsen? Mitten zwischen den Wacholderbüschen?
    »Es ist zu weit fort«, wisperte Christopher. »Ich kann es nicht genau –«
    »Erkennen«, hatte er sagen wollen. Doch ein Windstoß riss ihm das Wort vom Mund. Er schützte die Fackel mit der Hand, doch sie flackerte nur noch höher auf im Luftzug.
    Hatte der Wind plötzlich beschlossen, sich zu einem Sturm auszuwachsen? Das Gras wisperte lauter, ängstlicher. Das Holz der Büsche knarzte. Da war jetzt ein Sausen und Flattern in der Luft wie von Millionen winziger Vögel, und etwas an diesem Geräusch schnürte Christopher die Kehle zu. Woher kannte er dieses Sausen? Dieses Flattern?
    Nun kam es näher, wurde größer und mächtiger, rauschte und sang –
    Christopher hob den Kopf.
    Und da sah er den Drachen.
    Er flog auf breiten Schwingen über die Ebene heran, und obgleich er nicht mehr war als ein verschwommener Umriss in der Nacht, konnte Christopher nicht umhin, die Eleganz seiner Bewegungen zu bewundern. Selbst bei Nacht waren die Drachen schön, denn es ging ein eigener, gedämpfter Lichtschimmer von ihnen aus.
    Er spürte Jumars Hand auf seinem Arm. »Bleib ganz still stehen«, wisperte Jumar. »Er kann uns nichts anhaben. Es gibt keine Schatten. Es ist zu dunkel.«
    Und wenn er es auf etwas anderes abgesehen hat?, dachte Christopher. Darauf, uns zu vernichten?
    Nein, sagte er sich, während er steif und reglos neben Jumar stand. Wir sind den Drachen egal. Auch der Drache im Wald, bei der Quelle, hatte ihm nicht wirklich nachgesetzt, Jumar hatte es ihm erzählt. Die Drachen waren ebenso wenig böse, wie ein Raubtier böse ist.
    Aber sie waren ebenso grausam und ebenso gefährlich.
    Und warum kam der Drache genau auf sie zu?
    In diesem Augenblick zogen die Wolken beiseite, und der Mond kam groß und beinahe rund dahinter hervor. Er goss sein weißes Licht auf

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