Drachen der Finsternis
das ist einfach«, antwortete Jumar fröhlich, »ich hacke mir einen Finger ab, und wir befestigen ihn am Geländer.«
»Waaaarte«, sagte Christopher gedehnt und versuchte, einen Gedanken zu greifen. »Wie wäre es mit... Haaren? Könnten wir nicht eine Haarsträhne von dir um das Geländer wickeln?«
»Es käme auf einen Versuch an.«
Der Rucksack erschien auf dem Boden. »Würdest du die Güte haben, mein Taschenmesser zu suchen? Mit einer Hand ist das schwierig.«
Christopher fand das Messer im Durcheinander aus kratzigen Wacholderästen (»wir müssen sie bei Gelegenheit wegwerfen«, murmelte er), Jackenärmeln und der nutzlos gewordenen Taschenlampe, und kurz darauf zierte eine unsichtbare Haarsträhne des Kronprinzen von Nepal das Geländer einer gewissen Hängebrücke über einem gewissen Tal.
Die Brücke ist seitdem nicht mehr gesehen worden.
Manche Leute sagen, sie hätten beobachtet, wie in mondhellen Nächten bisweilen ein Maultier oder ein Schaf dort, wo sie einst war, mitten durch die Luft zur anderen Seite des Abgrundes wanderte. Aber die Leute reden eben.
Nicht weit jenseits des Tales führte der Pfad die beiden Wanderer steil in die Höhe, und diesmal ließen sie die grüne Welt des Urwaldes endgültig hinter sich zurück. Sie wanderten an anderen Tälern entlang, überquerten andere Brücken, Brücken aus Holz, die über weniger reißende Flüsse führten, und das Land änderte sein Gesicht.
Noch etwas änderte sich, langsam, kaum merklich, im Verborgenen. Der nepalesische Thronfolger schwieg lange Zeiten des Tages. Sie sprachen nie über das, was geschehen war, und doch wusste Christopher, dass etwas in seinem umrisslosen Begleiter zerbrochen war, ein kleines Rad im Getriebe seiner Zuversicht; ein Rad, das durch seine Trümmer den ganzen Zweck ihrer Reise ins Wanken brachte. Sie hätten über so vieles sprechen sollen, dachte Christopher, doch stattdessen wanderten sie, wanderten und wanderten, bis zu Erschöpfung, stur geradeaus.
Die Büsche waren nur noch kniehoch, kurzes, trockenes Gras breitete seinen struppigen Mantel über die Erde, und es war, als wäre die Ebene mit den Wacholderbüschen ein erster Vorbote der nächsten Tage gewesen. Die Sonne brannte jetzt im Nacken, und nachts war es kälter denn je.
Christopher merkte, dass es ihm schwerer fiel aufwärtszusteigen.
»Das ist die Höhe«, sagte Jumar – und Christopher war froh, dass er etwas sagte. »Es hat etwas mit dem Sauerstoff zu tun. Nach einer Weile gewöhnt man sich daran. Noch ist es harmlos.«
Christopher hoffte, dass die Maos ihr Basislager nicht jenseits jeglichen Sauerstoffs aufgeschlagen hatten. Doch Jumar behielt recht: Sein Körper gewöhnte sich mit der Zeit an die neuen Bedingungen.
Wenigstens gab es keine Treppen mehr. Dort, wo die Erde nicht allzu sehr anstieg, lagen die Hütten jetzt nicht mehr eng zusammengekauert, sondern vereinzelt und weit verstreut, als hätte man eine Handvoll Spielzeughäuser über der Landschaft verteilt. Dazwischen ragten aus dem niedrigen Gebüsch die klobigen Körper großer, felliger Gestalten auf, die ihre Köpfe mit den langen Hörnern schwermütig hin und her pendeln ließen, als bedächten sie Philosophisches.
»Yaks«, sagte Jumar.
Christopher erinnerte sich an ein Foto in dem Bildband: Vielleicht war es irgendwo hier ganz in der Nähe aufgenommen worden, die Landschaft im Hintergrund war die gleiche gewesen.
Sie hatten den Weg der Touristen verlassen; das letzte zerbrochene Englisch, das sie entdeckten, befand sich an der Wand einer Lehmhütte und verkündete:
Yak Tail – yoghurt forsel here. Lodge.
Vermutlich sollte es »Yak Tail-Lodge" und »yoghurt for sell here" bedeuten, aber es war eine hübsche Vorstellung, dass sie dort Yak-Schwanz-Joghurt verkauften.
Das Lachen blieb ihnen im Hals stecken, als sie den Besitzer der Lodge sahen. Er saß auf seiner eigenen Bank, einer Touristen-leeren Bank, und er war aus Bronze, genau wie das kleine Mädchen auf seinem Schoß.
An diesem Tag zählten sie dreizehn weitere Bronze-Statuen, hohl und leblos. Sie näherten sich den Höhen, in denen die Drachen häufiger unterwegs waren, und auch die grauen Flecken in der Landschaft wurden zahlreicher.
Christopher versuchte, so zu tun, als sähe er sie nicht.
Gegen Abend durchquerten sie einen Landstrich, in dem die Büsche nicht mehr grün waren und das Gras nicht mehr braun, und Christopher war froh, dass das Licht nicht mehr gut genug war, um Genaues zu sehen.
Er war es
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