Drachen der Finsternis
ihm hinab. Jumar konnte es sehen. Und er spürte, dass die Angst Christophers Gedanken auf der Stelle festnagelte und ihm verbieten wollte zu sprechen. Er hörte seine Mühe, die Worte hervorzuquetschen. Dennoch sprach er.
»Nach Osten. Oder nach Süden. Oder nach Westen. Vielleicht auch nach Nor-«
»Das reicht«, sagte Kartan.
Die Schlucht öffnete ihre Arme, um einen zu empfangen, der kein Königssohn war. Der nichts war, und der nichts hatte – außer einem roten Red Hot Chili Pepper s-T-Shirt und einem Bruder mit blondem Haar, der verschwunden war.
Der farblose Fluss machte sich bereit, ihn in seinem Wasser aufzunehmen.
Doch nichts dergleichen geschah.
Stattdessen geschah etwas sehr, sehr Seltsames.
Später sagten die Soldaten, die es gesehen hatten, es wäre nicht mit rechten Dingen zugegangen, und sicherlich müsste es der Sohn des Königs gewesen sein, und wenn nicht, dann ein Heiliger oder vielleicht ein Geist in Menschengestalt. Die wenigen Christen unter ihnen bekreuzigten sich, und die Übrigen fielen zu Boden, die Stirn auf der Erde, und blickten erst wieder auf, als sie die wütenden Schreie ihres Hauptmanns nicht länger ignorieren konnten.
Denn eine geheime Macht entriss Kartan das Messer, stieß ihn fort von dem Jungen dort am Abgrund, der selbst keine Hand rührte, und brachte ihn aus dem Gleichgewicht, dass es einen Moment lang so aussah, als wäre es der Hauptmann, der in den Abgrund stürzen würde.
Und einige von ihnen hofften es vielleicht.
Als Kartan sich wieder fing, sahen sie, dass er seine rechte Hand in der linken barg und dass Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Sein eigenes Messer, sagten sie, hatte sich gegen ihn gewandt.
Da hatte der Junge bereits einen Satz nach vorne gemacht und lief nun über die Hängebrücke.
»Worauf wartet ihr denn!«, schrie der Hauptmann außer sich. »Jetzt steht hier nicht tatenlos rum und guckt dumm in die Gegend, sondern folgt ihm! Er darf uns auf gar keinen Fall entkommen! Werdet ihr euch wohl endlich in Bewegung setzen, ihr verdammten Feiglinge –«
Er selbst machte einen Satz auf die Brücke zu –
Und dann –
Dann verschwand die Brücke.
Sie verschwand einfach so, verschwand vollkommen, verschwand im Nichts.
Der Junge, von dem man nicht genau wissen konnte, wer oder was er war, hielt einen Moment lang inne, als zögerte er. Doch kurz darauf setzte er seinen Weg fort, durch das Nichts über den Abgrund zur anderen Seite.
S ubalpine Steppe
(Höhe: ca. 2700 – 4000 m)
Flora:
Tränenkiefer (Pinus wallichiana), Himalaja-Tanne (Abies spectabilis), Morinda-Fichte (Picea smithiana), Sanddornarten (Hippophae tibetana), Kugelprimel (Primula denticulata), Rittersporn (Delphinium), Hanfpflanze (Cannabis satira), verschied. Koniferen und Beifußspezies, Gerste, Kartoffel, unterschiedliche Obstbaumsorten
Fauna:
Schneeleopard, Schneehase, Fuchs, Yak
Niyas Worte
Christopher sah die Brücke verschwinden, und es schwindelte ihn.
Er spürte die Metallplatten unter seinen Füßen, doch seine Augen konnten sie nicht mehr sehen.
»Hab keine Angst«, hörte er Jumar sagen, irgendwo vor sich. »Es ist in Ordnung. Es ist nur meine bloße Hand auf dem Geländer. Ich habe die Handschuhe ausgezogen. Ich werde meine Finger am Geländer entlanggleiten lassen und nicht loslassen, bis wir drüben sind. Und ich wette mit dir, dass niemand von diesen Feiglingen uns folgt.«
»Um w-was w-wettest du?«, fragte Christopher mit einem unkontrollierbaren Zittern in der Stimme.
»Um dein rotes T-Shirt«, antwortete Jumar ernst. »Es gefällt mir unsagbar gut, und ich würde es nach dieser Reise gern behalten.«
Christopher zweifelte daran, dass nach »dieser Reise«, wo auch immer sie endete, noch viel von dem Red Hot Chili Peppers- T-Shirt übrig sein würde. Es hätte ihn erstaunt, die Wahrheit zu erfahren.
»Du musst weitergehen«, drängte Jumar. »Wenn du zu lange zögerst, probieren sie es womöglich doch aus. Bitte, geh weiter! Halt dich am Geländer fest!«
Die Brücke schwang hin und her, und das Geländer war nicht mehr als ein Stück niedriger Maschendrahtzaun, vermutlich dazu gedacht, Schafe oder Ziegen vorm Hinabstürzen zu bewahren, in jedem Falle aber zu niedrig, um einem Menschen sicheren Halt zu geben. Vor allem, wenn man den Maschendraht nicht sah.
Tief, tief unter sich sah Christopher das farblose Wasser des Flusses brodeln, umrahmt vom spitzen Gesicht des Felsgesteins. Niemanden, der dort hinabstürzte, würde die Welt
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