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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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wusste er nicht, was.
    »Anstrengend ist das«, sagte Kartan, den Blick in die Ferne zur anderen Seite des Tales gerichtet. »Auszehrend. Immer überall zur gleichen Zeit sein zu müssen. Auch ich bin nur ein Mensch. Und gerade, wenn der Sohn des Königs es sich in den Kopf gesetzt hat fortzulaufen und sich in der Welt umzusehen, wird mein Leben zur Hölle.«
    Er seufzte. »Dein Vater sorgt sich sehr um dich. Er hat mir von dir erzählt, damit ich dich suche. Es stört dich doch nicht, wenn ich dich duze? Du bist noch so jung! Viel zu jung, um zu sterben. Es ist gefährlich hier oben in den Bergen, und ich kann die Sorge meines Königs gut verstehen.«
    »Er sorgt sich?«, fragte Jumar.
    Doch er erhielt keine Antwort.
    Stattdessen blitzte es in der Luft metallen, und im nächsten Moment presste sich die Klinge eines Messers gegen Christophers Hals.
    Jumar schnappte an seiner Stelle nach Luft.
    »So, verehrter Kronprinz«, flüsterte Kartan, »schrei, wenn du möchtest. Schrei um Hilfe. Dies dort sind meine Männer. Sie haben Angst, die Feiglinge, sie sind zu nichts nutze. Aber sie werden mir nicht in den Rücken fallen. Hör gut zu.«
    Er flüsterte jetzt, und Jumar sah, wie er Christopher näher an den Abgrund drängte, dort, wo die Felsen ihn säumten, direkt neben der Brücke.
    »Ich bin seit Langem der erste Mann des Königs«, zischte Hauptmann Kartan. »Der Einzige, dem er vertraut. Ich bin es, der die Maos von der Stadt fernhält, damit er in seinem Garten davon träumen kann, wir würden in einem friedlichen Staat leben. Ich bin es, der dafür Sorge trägt, dass seine Steuergelder fließen, und sie fließen in den Garten und in seine Träume. Aber sie fließen auch in meine Truppen. Wo auch immer du die letzten vierzehn Jahre gesteckt hast – du und ich, wir wissen beide, wer der Thronfolger von Nepal wird. Und du, mein Junge, bist es nicht.«
    Jumar wollte etwas erwidern, doch die Worte weigerten sich zu fließen.
    Christopher hatte vollkommen recht gehabt. Er war ein Idiot. Ein absolut hirnverbrannter, blinder, tauber und unsichtbarer Idiot.
    »Nein, ich bin es nicht«, hörte er Christopher da sagen, und er starrte ihn verblüfft an.
    »Denn der, den Ihr hier sucht, ist nicht so dumm, Euch in die Falle zu gehen.«
    Oh doch, dachte Jumar. Verzeih mir, Christopher, bitte, bitte verzeih –
    »Der Sohn des Königs von Nepal«, sagte Christopher fest, »ist unsichtbar.«
    Kartan verschmälerte die Augen in seinem glatten Gesicht, und auch diese kaum wahrnehmbare Bewegung schien seine faltenlose Haut beinahe ins Schmerzhafte zu dehnen.
    »Das«, antwortete er, »hat der König auch behauptet. Ich gebe zu, dass ich es für Spinnerei halte. Es ist nicht mehr alles im Kopf des Königs so, wie es sein sollte. Er hat nicht mehr lange zu leben.«
    »Woran wird er sterben?«, hörte Jumar Christopher fragen. Er selbst brachte immer noch kein Wort hervor.
    »Wenn du tatsächlich sein Sohn wärst, bräuchte ich dir das wohl nicht zu sagen«, antwortete Kartan, und nur Jumar wusste, wie unrecht er hatte.
    »Es wächst ein Tumor in seinem Kopf, schon seit vielen, vielen Monaten«, flüsterte der Hauptmann. »Er wächst langsam, aber unaufhaltsam. Die besten Ärzte aus Kathmandu haben ihn mit den modernsten Geräten diagnostiziert. Er hat sich geweigert, sich operieren zu lassen. Und er hat recht. Es hätte ihm nichts genutzt. Er nimmt starke Mittel gegen die Schmerzen, aber nichts ist stark genug. Nur im Garten, bei seiner schlafenden Frau, findet er noch Ruhe.«
    Kartan sprach ohne Emotion, wie ein Nachrichtenansager, der das Wetter für den nächsten Tag bekannt gibt. Jumar ballte die Hände zu Fäusten.
    »In Kürze«, sagte Kartan, »wird der König nichts mehr sein als ein verwirrter, alter Mann, er wird das Bett hüten müssen, ein weißes Klinikbett, und dann wird er gar nicht mehr sein. Ich brauche nicht einmal nachzuhelfen.«
    Er drängte Christopher noch ein Stück näher an den Abgrund.
    »Wo ist er?«, fragte er eindringlich. »Der unsichtbare Sohn des Königs, wo ist er? Wenn dir dein Leben lieb ist, verrätst du es mir. Ich bin keiner von den Zimperlichen. Ich muss gestehen, ich mag den Ausdruck nicht, denn es ist solch ein Klischee! Aber es ist wahr: An meinen Händen klebt schon so viel Blut, dass es nicht mehr lohnt, sie zu waschen.«
    »Er ist schon lange weit fort«, wisperte Christopher, und ein Tropfen Blut nässte die blitzende Messerschneide an seinem Hals.
    Ein Tropfen Angst rann mit dem Blut an

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