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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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wiedersehen, die Felsen würden ihn zerschmettern und der Fluss ihn in seinen unheimlichen Wassern begraben, mit sich fortreißen, auf immer.
    Christopher spürte, wie der Abgrund ihn anzog, und er dachte an die Augen des Drachen zurück, jene bodenlosen, schwarzen Strudel – nein. Er riss seinen Blick gewaltsam von der Tiefe los und sah nach vorne, zur anderen Seite, wo der Urwald mit seinen grünen Händen winkte.
    Dann setzte er einen Fuß vor den anderen, begann, langsam geradeaus zu gehen, durchs Nichts, durch die Luft; ein Seiltänzer ohne Seil.
    Was, wenn er danebentrat? Über den zu niedrigen Maschendrahtzaun, ins Nichts? Am liebsten hätte er sich auf die Knie niedergelassen und sich Meter für Meter an dem unsichtbaren Zaun entlanggetastet. Aber hätten die Soldaten in diesem Fall nicht geahnt, dass der Zaun noch da war? Und überhaupt hätte es zu lange gedauert.
    Er breitete die Arme aus und biss die Zähne zusammen. Hätte die Brücke nur nicht so geschwankt! Geradeaus gehen, sagte er sich, nur immer geradeaus. Aber wo genau war geradeaus?
    Jumar war ihm ein Stück voraus, er konnte ihn pfeifen hören, damit Christopher wusste, wo er sich befand. Der Schweiß lief in Strömen an ihm herab, obwohl es kühl war, hier über dem Fluss.
    Hinter sich hörte er die Rufe der Soldaten. Ihre Worte drangen nicht in seinen Kopf, denn sein Kopf war zu sehr damit beschäftigt, nicht an den Abgrund unter ihm zu denken. Doch er hörte ihre Verblüffung, und dann waren da andere Rufe, eine andere Stimme, voller Wut: Kartans Stimme. Seine Wut war so bodenlos wie die Tiefe.
    Und einen Moment lang war Christopher sich sicher, dass Kar-tan ihm folgen würde.
    Dass er nicht länger zögerte, auf die unsichtbare Brücke hinauszugehen.
    Dass seine Hand ihn packen würde, ehe er die andere Seite der Schlucht erreichte – eine kalte, entschlossene Hand. Kalt wie die Hand des Todes.
    Er wollte sich nicht umdrehen.
    Aber dann tat er es doch.
    Und da stand Kartan, reglos, und starrte. Sein Blick erinnerte Christopher an die leeren, schwarzen Augen der Drachen. Und ein unsinniger Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Kartan selbst war ein Drache. Gleich würde er sich verwandeln, sich in schillernde, farbenprächtige Schuppen kleiden, seine Schwingen ausbreiten und über die Schlucht fliegen ... Unsinn.
    Kartan verwandelte sich nicht. Stattdessen streckte er einen Arm aus und schob einen seiner Soldaten nach vorne. Seine Bewegung war so rasch, dass der Soldat keine Zeit hatte, sich zu wehren. Natürlich. Er war nicht so dumm, es selbst als Erster zu probieren.
    Soldaten gab es viele, wie Bauern beim Schach: Sie waren dazu da, verbraucht zu werden.
    Und so sah Christopher an jenem Tag dabei zu, wie einer der Soldaten verbraucht wurde.
    Kartan hatte ihn nicht ganz in die richtige Richtung geschoben. Der Mann stolperte vorwärts, streckte Hilfe suchend die Arme aus – und fand nichts.
    Er fiel neben dem Anfang der unsichtbaren Brücke in die Tiefe. Das Letzte, was Christopher von ihm sah, waren ein tarngrüner Ärmel und eine hilflos geöffnete Hand.
    Die Welt begann, sich um den Wanderer über der Schlucht zu drehen. Es war ihm, als fiele er selbst. Er wusste nicht mehr, ob er es war, der schwankte, oder ob es die Brücke war. Er ging in die Knie, tastete um sich, fand keinen Halt – wo war das Geländer? Dort.
    Er schloss die Augen. Krallte sich fest. Nein. Er konnte keinen einzigen Schritt mehr weitergehen. Er würde hierbleiben, den Maschendraht nie mehr loslassen und bis ans Ende seiner Tage mit der Hängebrücke hin und her schwanken –
    »Christopher!«, hörte er Jumar leise rufen. »Hierher! Komm! So komm doch! Bitte!«
    Ich kann nicht, dachte Christopher. Ich kann nicht, kann nicht, kann nicht.
    Arne hätte es gekonnt.
    Aber nicht ich.
    Doch dann richtete er sich langsam auf, öffnete die Augen und ging weiter.
    Denn man kann alles, wenn es nicht anders geht.
    Er wusste nicht, wie er die andere Seite der Schlucht erreichte. Doch irgendwie erreichte er sie. Es war wie ein Wunder.
    Als er endlich, endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, zitterte er so sehr, dass es ihn schüttelte. Hinter ihm war die Brücke noch immer nicht zu sehen.
    »Wo ... wo bist du?«, fragte Christopher erschöpft.
    »Hier. Ich halte das Geländer noch ein Weilchen fest –«
    »Am besten wäre es«, sagte Christopher, »ein Teil von dir könnte immer hierbleiben, und die Brücke würde einfach überhaupt nie wieder auftauchen.«
    »Oh,

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