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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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war, auf dem er sich bewegte, oder viel eher ein ausgetrocknetes Bachbett.
    Als er sich das erste Mal umdrehte, sah er die letzten Hütten weit unter sich liegen.
    Sonst sah er nichts. Natürlich nicht.
    »Jumar?«, fragte Christopher. Er erhielt keine Antwort.
    »Bitte«, sagte er laut, »umso besser.«
    Und so wanderte er weiter, wanderte alleine, weiter und weiter, höher und höher stieg er; und seine einzigen Begleiter waren sein Hunger und seine eigenen Gedanken. Zwei Stunden später war nirgendwo mehr ein Weg oder auch nur ein Bachbett zu entdecken. Das Einzige, was er fand, war ein länglicher Haufen Geröll, der wie eine eingestürzte Mauer wirkte. Christopher setzte sich daneben auf den steinigen Boden, lehnte sich an die Mauer, die keine war, konzentrierte sich eine Weile darauf, die kalte Luft ein- und auszuatmen, und hielt sein Gesicht in die Sonne.
    Sie brannte auf den Wangen wie die Wut zuvor in seinem Herzen, doch als er die Wut jetzt suchte, konnte er sie nirgends mehr finden. Und er begann sich zu fragen, ob es richtig gewesen war, Jumar all diese Dinge an den Kopf zu werfen.
    Vielleicht hätte er Arne wirklich nicht befreien können. Und wenn Jumar Christopher brauchte, brauchte er nicht auch Jumar? Jumar hätte ihm womöglich sagen können, wo der Weg weiterführte. Ob es noch einen Weg gab. Dies war Jumars Land, und er kannte seine Zeichen. Bedeutete dieser Geröllhaufen etwas, neben dem er saß, oder war es ein zufälliger Geröllhaufen?
    Er nahm einen Stein in die Hand – einen glatten, ovalen Stein, flach, beinahe wie eine Platte. Und als er ihn umdrehte, stand etwas darauf. Etwas war dort eingeritzt. Schriftzeichen. Keine allerdings, die er lesen konnte. Er sprach zwar aus unerfindlichen Gründen die Sprache des Landes, aber seine Schrift kannte er nicht. Jumar kannte sie.
    Christopher stand auf und ging an dem länglichen Gebilde aus losen Steinen entlang.
    An seinem anderen Ende kauerte jemand am Boden.
    Er zuckte zusammen und blieb stehen – und für einen Moment dachte er, es wäre Jumar. Aber Jumar war unsichtbar. Und Jumar war nicht mehr bei ihm.
    Es war ein alter Mann, der dort im Windschatten kauerte.
    Und er war aus Bronze.
    Christopher schüttelte sich und machte einen Schritt zurück. Dann noch einen – und dann begann er, eilig weiterzugehen, hangaufwärts, irgendwohin: noch immer allein.
    Die Sonne befand sich schon auf dem Weg nach unten, als er, noch immer weglos, den Kamm der Bergkette erreichte. Auf der anderen Seite breitete sich ein Tal aus. Erst dahinter stieg das Gebirge weiter an, und in der Ferne blitzte ihm das Eis der wirklichen Höhen entgegen. Christopher blieb stehen und fragte sich, ob er hinunter in das Tal gehen sollte oder auf dem Hügelkamm entlang.
    Arne lächelte aus dem Dunkel der Erinnerung zu ihm herauf und sagte: »Wenn du ins Tal gehst, lesen wir weiter auf Seite 51. Wenn du lieber den Grat entlangwanderst, lesen wir weiter auf Seite 67.«
    Er hielt ein Buch auf dem Schoß und saß neben Christopher an einem Bach. Die Sonne schien, und sie ließen ihre bloßen Füße ins Wasser baumeln. Christopher war noch zu klein, um selbst zu lesen. Was hatte er geantwortet, an jenem Tag?
    »Wir gehen doch zusammen«, hörte er sich mit der Stimme eines Fünfjährigen sagen. »Wir gehen zusammen hinunter ins Tal, denn dort gibt es Menschen, und dort gibt es etwas zu essen. Oder was meinst du?«
    Aber Arne war nicht da, und er konnte ihm nicht helfen.
    Das Tal war eng, und das Dorf darin schien Christopher das hübscheste, das er je gesehen hatte. Die Häuser standen hier dicht an dicht, und auf ihren flachen Dächern wuchsen Gebets-flaggen in die Höhe, rot, grün, gelb und blau; dicht an dicht knatterten sie im Wind wie papiernes Kinderspielzeug. Die Wände der Häuser bestanden hier nicht mehr aus Lehm, sondern aus übereinandergeschichteten Steinen, schieferartig, und hinter Mauern aus ebendiesem Stein winkten die Zweige von Obstbäumen. Pfirsiche und Äpfel hingen an ihren Ästen, Birnen und Aprikosen, und Christopher beobachtete von ferne, wie die Ziegen auf den Mauern herumkletterten, um das Gras zwischen den Steinen zu fressen. In der größten Gasse floh eine Schar Hühner vor einem übermütigen kleinen Jungen, und auf dem niedrigen Dachboden einer Scheune am Rand der Obstgärten drehten zwei Männer das Heu.
    »So muss es früher überall gewesen sein«, sagte er mit einem Seufzen – er sagte es zu Arne, der nicht da war, oder zu sich selbst oder zur

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