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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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anderer hätte sein können. Eine verwelkte Hibis-kusblüte steckte auf einem der Nägel, mit dem das Foto an der Wand befestigt war.
    Der große T war nicht groß. Er war ein kleiner, schmächtiger Mann mit der Ausstrahlung einer Eidechse: flink, wendig, klug. Niemals greifbar. Er trug eine grüne Uniform ohne jedes Abzeichen und weder eine tarngrüne Jacke noch einen Patronengurt. Auf seinem Tisch lagen neben den Papieren eine Pelzmütze und ein Revolver, wie beiläufig dort platziert, achtlos. Selbstverständlich. Er stand von seinem Schreibtisch auf, als sie den Raum betraten, ging um den Tisch herum und musterte Christopher eine Weile von Kopf bis Fuß.
    Er trug jetzt die tarngrüne Kleidung aller Kämpfer, und Ju-mars Sandalen hatten klobigen Stiefeln weichen müssen, die zugegebenermaßen hier oben zweckmäßiger waren.
    Christopher senkte den Blick, legte die Hände zusammen und verbeugte sich.
    »Du bist nicht allein«, sagte der große T. »Ich habe dich rufen lassen, weil ich höre, dass du mit einem unterwegs bist, der anders ist als andere Menschen.«
    »Er ist unsichtbar«, sagte Christopher.
    »Das ist es, was ich hörte.«
    »Es ist eine Art Geburtsfehler«, erklärte Jumar, und Christopher erwartete, dass der große T zusammenzuckte, als seine Stimme aus dem Nichts kam, so wie es alle taten, die es zum ersten Mal erlebten. Doch der Anführer der Aufständischen verzog keine Miene.
    Er drehte den Kopf ein winziges bisschen, um in Jumars Richtung zu sehen.
    »Du kannst uns große Dienste leisten«, sagte er. »Du weißt das?«
    »Ja«, antwortete Jumar.
    »Du wirst bei uns bleiben und für uns kämpfen?«
    »Ja.«
    »Es ist schwierig, einen Unsichtbaren zwischen den Männern zu haben«, sagte der große T. »Es macht sie nervös. Es kann der Disziplin schaden. Ein Unsichtbarer ist unkontrollierbar, immer frei, stets sein eigener Herr. Ich hoffe, du weißt, dass ich großes Vertrauen in dich setze, wenn ich dich bleiben lasse. Die Verantwortung, die du trägst, ist anders als die jedes gewöhnlichen Kämpfers. Du trägst die Verantwortung für dich selbst. Eine schwere Bürde. Wie alt bist du?«
    »Vierzehn«, erwiderte Jumar. »Genau wie mein Freund hier.«
    »Ein gutes Alter, um das Kämpfen zu lernen«, sagte der große T. »Ein schlechtes Alter, um Verantwortung zu tragen.«
    »Ich werde mich Eures Vertrauens würdig erweisen«, erklärte Jumar, und Christopher hätte vielleicht über seine salbungsvollen Worte gelächelt, wäre die Kehle ihm nicht in diesem kahlen Raum vor dem eidechsenflinken kleinen Mann so zugeschnürt gewesen.
    »Das will ich hoffen«, sagte der große T.
    Und damit war ihre Unterredung beendet.
    Er hatte nicht ein einziges Mal gefragt, ob es Methoden gäbe, Jumar sichtbar zu machen. Und auch Jumar hatte es nicht erwähnt.
    Drei Tage später begann es zu schneien.
    Die ersten Flocken fielen, als das Nachmittagslicht sich bereits aus den Bergen zurückzog, und eine eisige Kälte breitete sich über die Stadt. An diesem Nachmittag hatte Christopher zum ersten Mal bei den Schießübungen getroffen, und ein warmes Gefühl der Euphorie ließ ihn die Kälte zuerst nicht spüren. Der Führer ihrer Truppe beendete das Training früher als sonst. Als sie durch die Straßen zurück zu ihren Häusern marschierten (auch das hatte er gelernt), blickte er zum Himmel auf, der sich rasch verdunkelte, und öffnete den Mund, um die Schneeflocken aufzufangen und auf seiner Zunge zerschmelzen zu lassen.
    Und seit Langem stiegen wieder Erinnerungen in ihm empor:
    Er und Arne im Schnee, Handschuh in Handschuh. Spuren ihrer Stiefel mit den lachenden Clownsgesichtern im Garten. Ein Schneemann mit einer Gurke als Nase, weil sie keine Karotte gefunden hatten. Ein blauer Schneeanzug. Ein Schlitten: Arne lag auf dem Bauch, und Christopher saß rittlings auf ihm und juchzte, und der Schlitten fiel mitten auf dem Hügel um, und sie kullerten durch den Schnee wie junge Hunde. Er konnte ihr helles Lachen hören, Kinderlachen, von so weit, so unendlich weit weg.
    Er war ganz am Ende des Trupps marschiert, und erst, als er aus der Erinnerung auftauchte, merkte er, dass er stehen geblieben war. Noch war es niemandem aufgefallen. Er sah sich um.
    »Jumar?«, flüsterte er. Aber Jumar schien mit den anderen weitergegangen zu sein. Vor Christopher machte die Straße eine Biegung, und er sah die Männer dort verschwinden.
    Er sollte ihnen nachrennen, dachte er, denn sie würden es nicht mögen, wenn sie merkten,

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