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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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stammte er aus einem Traum. Wie kann eine ganze Stadt schmelzen?«
    »Lehm«, sagte Jumar sachlich. »Die Stadt ist aus Lehm. Sie ist nicht geschmolzen. Der Regen hat sie zu dem gemacht, was du siehst.«
    Als sie hinunterritten, auf die Lehmbauten zu, kam es Christopher mit einem Mal vor, als hätte er die Stadt schon irgendwo gesehen. Als würde er sie schon lange kennen. Eine vage Erinnerung tauchte in ihm auf – der Bildband. War eine Fotografie von dieser Stadt in dem Bildband gewesen, den er sich damals angesehen hatte, auf seinem Bett? Wie lange war das her? Wochen? Monate?
    Aber wie konnte die Fotografie eines so geheimen, unauffindbaren Ortes in einem Bildband auftauchen? Er schüttelte den Kopf und verschob die Lösung dieses Rätsels auf später. Jetzt hatte er anderes zu bedenken. Irgendwo dort vor ihm, in der geschmolzenen Stadt, war Arne. Er spürte, wie seine Finger zu kribbeln begannen und sein Atem rascher ging.
    »Wir sind am Ziel«, flüsterte er Jumar zu, der hinter ihm auf dem Pferd saß. »Jetzt werden wir meinen Bruder finden. Wir müssen sie fragen –«
    »Noch nicht«, antwortete Jumar. »Warte noch ein wenig, Christopher.«
    Und Christopher seufzte, denn er wusste, dass Jumar recht hatte. Was er nicht wusste, war, wie oft er diese Worte in der nächsten Zeit noch hören würde und wie sehr er beginnen würde, sie zu verabscheuen.
    Am Eingang zur geschmolzenen Stadt gab es keine Mauer mit Gebetsmühlen. Es gab keine Steine, in denen die Menschen ihre Hoffnungen und Ängste geritzt hatten, und keine bunten Flaggen.
    Stattdessen standen dort auf einer ebenfalls geschmolzenen Mauer Figuren, die im fahlen Licht des kalten Mittags glänzten: Männer und Frauen, Kinder und Greise. Aber die meisten von ihnen waren Kämpfer in seltsam metallener Tarnkleidung.
    »Bronze«, flüsterte Jumar.
    Der Reiter vor ihnen fuhr herum. »Bronze, ja«, sagte er grimmig. »Wir stellen sie hier auf, damit niemand vergisst. Die, die es erwischt. Es werden mehr. Die Drachen kommen jetzt häufiger.«
    Und Christopher fühlte, wie ein kalter Atem ihn streifte, der von nirgendwoher kam.
    Er drehte sich auf dem Pferd um und sah zurück zur Mauer. Wie verloren die bronzenen Statuen wirkten! Kalt, leer und leblos.
    Die Stadt selbst war voller Leben, doch alles Leben in ihr drehte sich um das eine: die Vorbereitung jenes großen Tages, an dem die Aufständischen endlich ihre Kräfte sammeln und zur Hauptstadt ziehen würden. Alles drehte sich um das Lernen, das Üben, den Zusammenhalt.
    In der geschmolzenen Stadt gab es keine Individuen.
    »Wir alle sind eins«, sagte Niya, als sie in die Straßen zwischen den Lehmhäusern hineinritten, und ihre Augen leuchteten heller denn je. »Seht euch das an! Seht nur! Alle diese Menschen, sie alle wollen das Gleiche wie wir. Wie viele es sind! Viel mehr, als ich dachte! Und sie alle halten zusammen wie eine große Familie. Sie alle sind Brüder und Schwestern. Gemeinsam werden wir es schaffen, alles zu ändern, alles. Es wird keine Armen mehr geben und keine Reichen, so, wie ich es gesagt habe. Ist das nicht wunderbar?«
    »Ja«, sagte Jumar, »das ist wunderbar.«
    Doch Christopher schwieg.
    Etwas war da, das an seinem Herzen nagte, als er all jene Männer und Frauen in ihren grünen Tarnjacken durch die Straßen marschieren sah. Ja, sie marschierten: Es war, als ging nie jemand in der geschmolzenen Stadt irgendwohin, ohne zu marschieren und zu singen. Er suchte Arne unter den Marschierenden, doch er fand ihn nicht. Vielleicht lag es daran, dass es zu viele waren.
    Die Neuankömmlinge wurden mit einer Rede begrüßt, die allerlei schöne Worte über den Zusammenhalt der Kommunisten in aller Welt und der Maoisten im Besonderen in sich barg, Worte über Armut und Gerechtigkeit – doch keines dieser Worte berührte Christopher. Sie hatten nichts von der sprühenden, leuchtenden Helligkeit, die Niyas Worte gehabt hatten.
    Sie wirkten so kalt und eckig, so auswendig gelernt.
    An jenem ersten Abend, als er neben Jumar in einem der Lehmhäuser lag, in einem Raum mit vielen anderen, die er nicht kannte, flüsterte er ganz leise:
    »Ich bin vielleicht ein schlechter Mensch, Jumar. Aber mir ist dies alles nicht geheuer. Ich möchte mich nicht aufgeben und eins werden mit einer Masse. Ich möchte lieber Christopher bleiben.«
    »Aber das tust du doch«, wisperte Jumar zurück. »Indem du zusammen mit all den anderen hilfst, eine bessere Welt zu schaffen, wirst du noch viel mehr Christopher,

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