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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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dass er zurückgeblieben war. In diesem Moment entdeckte er den kleinen Jungen. Er stand in einer der Gassen und fing den Schnee mit der Zunge, genauso, wie Christopher es getan hatte. Er winkte ihm, und der Junge winkte schüchtern zurück. Was tat ein Kind im Basislager der Aufständischen? Christopher ging zu ihm hinüber, und einen Moment lang sah es so aus, als wollte der Junge fortlaufen, doch er blieb stehen.
    »Wohnst du hier?«, fragte Christopher. Der Kleine musterte ihn mit großen dunklen Augen. Seine Augen erinnerten ihn an Niya. Niya. Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen! Wenn er ihr nur in den Straßen begegnet wäre! Aber sie blieb verschwunden. Womöglich war sie gar nicht mehr in der geschmolzenen Stadt, sondern längst wieder mit ihren Männern draußen unterwegs, um neue Kämpfer zu rekrutieren.
    »Da hinten«, sagte der kleine Junge und zeigte auf ein Haus in der Gasse.
    »Dann sind deine Eltern Kämpfer?«
    Der Kleine schüttelte heftig den Kopf. Christopher sah, wie mager sein Körper unter dem zu großen Wollpullover war – er ertrank beinahe darin, und dennoch waren seine Lippen blau vor Kälte.
    »Aber wieso seid ihr hier, wenn deine Eltern keine Kämpfer sind?«
    Der Kleine sah ihn überrascht an. »Wir wohnen hier«, sagte er.
    »Du meinst – überall hier in der Stadt wohnen Leute?«
    »Nicht mehr überall. Manche sind weggegangen, als sie kamen. Manche sind näher zusammengerückt. Sie brauchen viel Platz. Sie brauchen unsere Häuser. Und unsere Vorräte. Sie brauchen alles Mögliche. Sie sind so viele.«
    Christopher nickte langsam.
    »Ich muss weiter«, sagte er. »Bis bald.«
    Doch von da an begann er, Augen hinter den Fenstern zu sehen – Gesichter, Bewegungen. Die Maoisten hatten die Stadt besetzt, und die hinter den Fenstern, die in den Schatten, die man nicht sah, lebten zusammengedrängt und hungerten.
    Sie hungerten nicht für eine bessere Zukunft. Sie hungerten aus Angst.
    Er wollte Jumar davon erzählen, doch an diesem Abend wurden sie getrennt. Man verlegte Christopher in ein anderes Quartier, weit weg von dem, in dem Jumar weiterhin schlafen würde, zu einer Gruppe, in der er keinen kannte. Vielleicht war es Zufall. Vielleicht geschahen diese Dinge, vielleicht hatten sie etwas mit der Organisation zu tun, obgleich Christopher keinen speziellen Sinn darin sah. Vielleicht hatten sie gemerkt, dass er an jenem Nachmittag zurückgeblieben war, aus der Reihe getanzt, aus der Gemeinschaft ausgebrochen.
    Von diesem Tag an konnte er mit keinem mehr reden. Er versuchte es, doch niemand schien mit ihm sprechen zu wollen. Sie hatten gemerkt, dass er anders war. Er begann, sich selbst von den Übrigen fernzuhalten, sich auszugrenzen, sich in sich selbst zu verschließen. Das Training wurde härter, es war kein Spiel mehr, es war Ernst; und die schneidend kalte Luft biss in seinen Lungen. Es war, als dringe der Schnee in sein Herz, als wäre die äußere, schützende Hülle seines Körpers undicht geworden wie ein alter Mantel. Er vermisste Niya mehr denn je – das Feuer ihrer Augen, das den Schnee hätte schmelzen können, die Berührung ihrer Hand auf seiner Schulter, wenn sie ihm etwas hatte zeigen wollen, ihr Lachen, ihre Worte, die Klänge ihrer Gitarre. Wenn er nachts alleine auf dem harten Boden lag und unter der dünnen Decke fror, dachte er an sie und stellte sich vor, sie wäre bei ihm.
    Wäre wenigstens Jumar ab und zu aufgetaucht! War er nicht ein Unsichtbarer, ein Immer-Freier, einer, der die Verantwortung für sich selbst trug? Hätte er ihn nicht suchen können, mit ihm sprechen, für ein paar Minuten nur? Doch Jumar blieb fern.
    War er dem großen T mit einem Mal so treu geworden, dass er sich über keinen seiner Befehle hinwegsetzte? Christopher ahnte. Der große T hatte Jumar gegeben, was sein Vater ihm nie gewährt hatte: Er hatte ihn akzeptiert, und so akzeptierte auch Jumar den großen T als seinen Befehlshaber. Aber was für eine gefährliche Art der Akzeptanz.
    Wenn sie jetzt vor der Stadt im Schnee marschierten, fiel Christopher häufiger zurück, ein hartnäckiger Husten setzte sich in seinen Lungen fest, und er konnte nicht mehr mit den anderen mithalten. Der Anführer seines Trupps sah das nicht gerne, und er musste sich anschreien lassen und den Kopf einziehen, und dann fand er sich allein, nachdem die Übrigen zum Essen davonmarschiert waren, fand sich unter der Aufsicht jenes Anführers, Runden joggend, die niemandem etwas nützten und seinen Husten

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