Drachenehre
hatten wir schon. Avóntos! Ein strunzdummer Avóntos! Genau das ist er! Aber wenn er denkt, er kann sie außen vor lassen und sie weiter an der Nase herumführen, dann hat er sich schwer getäuscht! Als hätte sie nicht sofort bemerkt, dass die Mitglieder des Hauses ta'Marduk perfekt auf ihr Eintreffen und den Umgang mit ihr gebrieft worden sind. Als würde ihr dieses kleine, versteckte Lächeln entgehen, mit der ihre Bestechungsgelder angenommen werden. Für wie beschränkt hält der sie? Wütend marschiert sie in ihrem verschwenderisch eingerichteten Zimmer auf und ab. Das Zimmer, das scheinbar für die ungebetensten Gäste am weitesten von den Privaträumen des Herrschers entfernt liegt. Soviel zu den Vorgaben ihres alten Herren. 'Sieh zu, dass du ein gemeinsames Zimmer mit dieser Frau beziehst.' Blablabla … 'Schleiche dich in ihr Vertrauen'. Blubberblubber … 'Lenke Sirrusch ta'Marduks Interesse von uns ab'. Yabba dabba du … Als wäre das überhaupt nötig, wenn sich der Rat nicht eingemischt hätte. Sie ist sich sehr sicher, dass Sirr nun erst recht alarmiert ist und höchst aufmerksam die Vorgänge in Athen beobachten wird. Nicht ohne Grund hat der Rat schließlich dieses Land in eine Korruptionspolitik gestürzt, die ihres Gleichen sucht. Nur in Mexico läuft zurzeit ein vergleichbares Unrecht unter den sehenden Augen der Staatsobrigkeit. Und wenn Sirr so schlau ist, wie alle sagen, dann muss ihm spätestens jetzt auffallen, dass der Rat dort ein ganz besonderes Süppchen am Brauen ist. Hätte sie doch nie die alte Weissagung in Aphrodites Tempel entdeckt! Und wenn ihr blöder Bruder seine Klappe gehalten hätte, dann wäre es ihr vielleicht möglich gewesen, die Schriftrolle vor ihrem Vater und dem Rat zu verbergen. Aber nein, ihr Stiefel leckendes Brüderchen musste ja sofort zu Daddy rennen und sie verpetzen. Zum Glück hatte sie schon eine Kopie anfertigen können, bevor die machtgierige Horde bei ihr eingefallen ist und ihr das Papyrus entrissen hat. Natürlich kann sie die Sorgen des Rates nachvollziehen. Aber hey! Die haben sich seit Jahrhunderten sehenden Auges das eigene Grab geschaufelt und jammern jetzt über die Konsequenzen? Das ist einfach nur erbärmlich! Gut, sie hatte nie einen eigenen Drachen und kann also den Verlust nicht nachvollziehen, den die Ratsmitglieder so fürchten. Sie hätte auch gerne einen eigenen Drachen gehabt. Vor allem weil sie sich dann nicht mehr so schrecklich einsam gefühlt hätte, in diesen vor Betriebsamkeit wimmelnden Palästen, die sie ihr Zuhause nennt. Aber da alle bekannten Drachen gefunden und gebunden wurden, lange bevor sie das Licht der Sonne erblickte, bleibt ihr eben nur, sich in ihr Schicksal zu fügen oder sich einen Drachen zu erkämpfen. Und wenn dieser Avóntos sich weiter aufführt wie ein bescheuerter Stein, dann könnte sie sich wahrlich überlegen, ihn zu einem Zweikampf um seinen Drachen herauszufordern. Im Übrigen ist er genauso vernagelt und eindimensional wie alle Männer! Himmel, was hat sie sich auf diese Ariane gefreut! Endlich mal ein Wesen, dass genauso vielschichtig zu sein scheint, wie sie sich fühlt. Eine menschliche Frau, die die Wandlung überlebt hat! Genau das, was dem Rat in den vielen Jahrtausenden nicht ein einziges Mal gelungen ist. Und Versuche hat es gegeben. Jede Menge schrecklich gescheiterte Versuche. Denn ganz so ungewöhnlich ist es nicht, dass sich ein Unsterblicher in eine Sterbliche verliebt. Die Mythen und Sagen sind voll von diesen Liebesgeschichten. Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Kleopatra und Marc Anton, Lancelot und Gwynifer, Paris und Helena. Die Liste ist sicher ellenlang. Natürlich wurden die Geschichten in eine Form gebracht, die auch von einem menschlichen Verstand akzeptiert werden konnte. Doch das Prinzip dahinter war immer das gleiche. Unsterblicher Mann trifft auf eine ganz besondere, menschliche Frau und versucht sie zu wandeln. Das versuchen wiederum andere Menschen zu verhindern. Die beiden fliehen und kämpfen um ihre Liebe doch irgendwas geht immer schief. Entweder war es Verrat oder ihr Körper zerbrach während der Transformation. Egal wie, sie überlebten es beide nicht. Woraufhin das Ganze ein wenig mit dichterischer Freiheit ausgeschmückt und dem Menschenvolk als wahre Liebesgeschichte verkauft wurde. Mit der Zeit, als die Menschen begannen, sich ihre eigene Göttlichkeit einzureden, wurden aus den Geschichten Sagen und Mythen. Keiner glaubte heutzutage mehr an den wahren Kern.
Weitere Kostenlose Bücher