Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
Wenn es einen Mann in diesem Stein gab, dann war sein Licht seine einzige Möglichkeit, mit dem, was jenseits seines Gefängnisses lag, Verbindung aufzunehmen.
»Er ist hier …«, erklang nun die Stimme, deutlicher und kraftvoller.
Bidayn schob ihr den Griff ihres Schwerts in die Hand. Es war eine primitive Bronzeklinge, aber sie musste genügen. Mit angehaltenem Atem setzte Lyvianne die Spitze des schlanken Schwertes auf die Mitte der Bleiplatte und hieb mit aller Kraft auf den Schwertknauf.
Die Bronze durchdrang das Blei. Lyvianne ruckte und zog an der Waffe, um das Loch zu vergrößern. Schließlich nahm sie ihre Hände zu Hilfe und bog das Blech auf. Ein fast kopfgroßes Loch war entstanden. Trockene, abgestandene Luft schlug ihr ent gegen.
»Liuvar«, begrüßte sie die unheimliche Stimme, und jetzt floss das blau verästelte Licht durch die neue Öffnung. Es war ein Gefühl, als kratze Dornengeäst über ihre Haut. Friedlich war dieser Empfang ganz und gar nicht. Lyvianne erkannte eine schwache, flackernde Aura im Inneren. Sie war vom dunklen Rot lange genährten Zorns kaum sichtbar. Nur zwei Kraftlinien umspannten den Körper, wo ein ganzes Netz hätte sein sollen. Beide hatten das Blau der Blitze.
Vorsichtig schob die Elfe ihre Öllampe durch die Öffnung und schloss ihr Verborgenes Auge. Im Inneren des Monolithen kauerte ein Gefangener, die Beine angezogen, den Rücken gerade gegen die Rückwand gepresst. Seine Haut hatte die Farbe dunklen Pergaments. Die Augen waren so tief in den Schädel eingesunken, dass nur noch dunkle Löcher geblieben waren. Seine zusammengepressten Lippen waren kaum mehr als eine schmale Narbe. Der Elf hatte eine hohe Stirn, aus der ein schmaler, dunkel angelaufener Reif sein Haar zurückhielt. Hohe Wangenknochen verliehen seinem Antlitz eine asketische Härte. Sein Haar war schwarz wie Rabenschwingen. Selbst im Tod wirkte er respekteinflößend.
»Du bist also der Mann im Stein, von dem Nandalee gelesen hat«, sagte Lyvianne leise und fragte sich, wie lange er in diesem elenden Gefängnis hatte ausharren müssen. Sie hob die Öllampe noch etwas höher, um besser sehen zu können. Wie eine Kralle lag die ausgedorrte Hand des Toten an dessen Hals. Nun schob Lyvianne den Kopf durch die Öffnung. Nein, die Hand lag nicht an seinem Hals. Er hatte seine Kehle aufgeritzt und die Fingerspitzen hineingeschoben! Wie es schien, hatte er seinem letzten Zauber mit seinem eigenen Blut mehr Macht verliehen.
»Ich hätte dich gerne gekannt«, flüsterte Lyvianne voller Respekt. Was für eine Selbstbeherrschung! »Wer bist du gewesen?«
»Schlange …« Das Geäst blauer Blitze griff nach Lyviannes Kopf. Und in dem kalten Licht sah sie, dass die Innenwände des Gefängnisses mit Zeichnungen und Texten bedeckt waren. Der Tote musste sie mit den Nägeln in das Blei gegraben haben. Über seinem Kopf war das Blei aufgebogen und ein winziges Loch durch den Stein gegraben. Durch dieses Loch musste das blaue Licht gedrungen sein. Hatte er das getan, oder waren es die Devan thar gewesen, die so verhindern wollten, dass er erstickte und einen schnellen Tod fand? Wie es schien, hatte der Gefangene versucht, das Loch zu erweitern. Es waren Kratzspuren auf dem Stein. Haarfeine Schrammen, für die er mit Schmerzen und abgebrochenen Nägeln bezahlt haben musste.
Wie lange hatte er noch gelebt, nachdem er lebendig in Stein und Blei gesperrt wurde? Und auf wen hatte er gehofft? Für wen hatte er seine Nachricht hinterlassen?
»Er ist hier …«
Die Worte jagten Lyvianne einen Schauer über den Rücken. Es war, als spürte er selbst im Tod noch ihre Gedanken und versuchte nun, ihr zu antworten. Er ist hier. Wer?
»Wir müssen weg von diesem Stein, von dieser Stimme«, flehte Bidayn. Die junge Elfe zerrte an ihr, versuchte sie zurückzuziehen. Aber Lyvianne wollte Antworten. Und für manche Antworten musste man einen Preis zahlen. Sie waren hier, in diesem Gefängnis, da war sie sich sicher. Sie presste ihre Wange an das Blei und versuchte zu lesen, was auf der Innenseite der Wand, gleich neben der Öffnung stand.
Wir entdeckten den Zugang, als es zu spät war. Wären wir nur von dort gekommen, statt ihm direkt in seine grausamen Fänge zu laufen. Er hat uns nicht mehr erkannt. Er lebte, aber er war nicht mehr der, den die Alben erschaffen hatten .
Neben die Worte war eine sich windende Schlange geritzt. Oder war es ein schlangenhafter Drache? Nein, sein Kopf war anders. Zu groß. Fremd. Vielleicht
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