Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
Wandteppich endete, auf dem die geflügelte Išta zu sehen war. Ein junger Priester streckte neugierig aus einer der Türen den Kopf hervor, zog sich aber sofort zurück, als er sah, wie Lyvianne den Wandteppich zur Seite zog. Die Elfe bückte sich und nahm eine der vielen mit bunten Bildern bemalten Öllampen, die vor dem Teppich auf dem Boden standen und die Bidayn bislang für Votivgaben gehalten hatte. Geschenke dankbarer Gläubiger, denen Išta Hilfe in der Not gewährt hatte.
Bidayn tat es ihrer Meisterin gleich, dann schlüpften sie hinter den Teppich und stiegen eine lange Treppe hinab, die sie fort von den Archiven tief unter die Grundmauern der Zikkurat führte. In diesen geheimen Tunnel war die Hitze des Tages nicht gesickert: Grabeskühle ging von den gebrannten Ziegeln aus. Schließlich erreichten sie ein Tor, das mit breiten Eisenbändern beschlagen war, denen der Flugrost die Farbe geronnenen Blutes gegeben hatte. Lyvianne schob den schweren Riegel zurück, und eisernes Schaben hallte von den Wänden des Tunnels wider. Ein Geräusch, als kratze eine Kralle über Stahl. Ohne zu zögern, öffnete Lyvianne das Tor und trat hindurch. Altes Dunkel, das lange von keinem Licht mehr durchdrungen worden war, umfing sie. Die Flammen ihrer Öllämpchen schienen zu schrumpfen und die Wände des Gangs näher zu rücken. Bidayn verstand, warum Tuwatis sich vor diesem Ort gefürchtet hatte. Ihr ging es nicht anders.
Sie erreichten ein weiteres Tor aus grün angelaufener Bronze. In das Metall war ein Relief geprägt, das die geflügelte Išta mit einem langen Schwert zeigte. Triumphierend setzte sie ihren linken Fuß auf einen riesigen Schlangenkopf. Der Bronzeriegel glitt überraschend leicht und leise zurück. Hinter der Tür erwartete sie eine Treppe, die noch tiefer in den Berg hinabführte. Haarfeine Kalkkristalle wucherten in den Fugen des alten Ziegelwerks. Es war jetzt so kalt, dass Bidayn der Atem in einer weißen Wolke vor dem Mund stand. Die Flammen ihrer Öllampen flackerten. Tief unter ihnen, weit entfernt, war ein leises Klirren zu hören. Ein eisiger Luftzug schlug ihnen entgegen, und einen Moment lang quälte Bidayn der Gedanke, dass sie etwas befreit hatten, das nun dem Licht entgegenstrebte. Unwillkürlich tastete sie nach dem Schwert an ihrer Seite. Es war eine schlecht ausgewogene, primitive Waffe, und doch war es tröstlich, den lederumwickelten Griff zu spüren.
Endlich erreichten sie das Ende der Treppe. Bidayn hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Sie vermochte nicht zu sagen, wie weit sie in die Tiefe gestiegen waren. Dafür spürte sie umso deutlicher, dass dies kein Ort für Menschenkinder oder Elfen war. Selbst die Flammen der beiden Öllämpchen schienen sich vor dem zu ducken, das hier im Dunkel lauerte. Sie waren zu winzigen Punkten gelben Lichts geschrumpft, das kaum einen Schritt weit in die Dunkelheit reichte.
Seitlich des Ganges, dem sie nun folgten, erhoben sich dunkle Öffnungen im Fels. Hier hatten die Priester verborgen, was nie ein Menschenkind sehen sollte. Dinge, die den Verstand untergruben, Schriften, die Wahrheiten verkündeten, für die Daia noch nicht reif war. Aus Tuwatis Erinnerungen wusste Bidayn um manches, was hier verwahrt wurde. Es überraschte sie, wovor die Menschenkinder sich fürchteten und was sie für Jahrhunderte wegschließen wollten. Hier gab es nur eines, das wirklich gefährlich war.
Sie erreichten eine dritte Tür. Zersprungene Ketten lagen wie zertretenes Gewürm vor ihr auf dem Boden. Bidayn kniete neben Lyvianne nieder und betrachtete die Kettenglieder. Körniger, roter Rost hatte sich tief in das Metall gefressen. Doch deutlich sah die junge Elfe silbern glänzende Bruchstellen. Sie dachte an das Klirren, das sie oben an der Treppe gehört hatte, und ihr schnürte sich die Kehle zu. Selbst Lyvianne wirkte plötzlich beunruhigt. Leise flüsterte sie ein Wort der Macht, einen Bann, der sie vor dunkler Magie schützen sollte. Bidayn tat es ihr gleich.
Der Riegel dieses schmucklosen Tores war so verrostet, dass sie ihn erst nach einer gemeinsamen Kraftanstrengung lösen konnten. Auch die beiden Torflügel waren verzogen. Sie mussten sich mit den Schultern gegen das Tor werfen, um es Zoll für Zoll aufzudrücken. Ein schreckliches Kreischen begleitete ihre Bemühungen. Bidayn spürte, wie sich tief in ihr Kälte einnistete. Das Tor zu öffnen widersprach jedem ihrer Instinkte. Ohne ihrem Verstand etwas Greifbares liefern zu können,
Weitere Kostenlose Bücher