Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
schienen nicht angreifen zu wollen, obwohl sie fast hundert waren.
Weit hinter ihnen, in einer Felsnische, die so groß war, dass sie die halbe Goldene Stadt in sich hätte aufnehmen können, lag eine Stufenpyramide. Eine steile Treppe führte in deren Mitte zur obersten Terrasse. Etwas bewegte sich dort. Nandalee kniff die Augen zusammen: Priester in Federschmuck standen um einen Opferstein versammelt. Es schien, als läge dort ein Mann. Ganz sicher war sie sich nicht. Die Entfernung war zu groß.
Gut sichtbar war hingegen ein kleiner See, der vor der Pyramide lag. Sein Wasser schimmerte im Dämmerlicht blutig rot.
»Hier ist es«, sagte Manawyn, und in seiner Stimme lag ein Zittern. »Das ist der See, aus dem der Schlangendrache kam.«
Von der Stufenpyramide ertönte Hörnerklang. Es war ein dumpfer, aufwühlender Laut, der sich in Nandalees Knochen krallte.
»Wo geht es in die Tiefe?«
Manawyn deutete nach links, wo sich die weite, abfallende Grotte in der Ferne in silbernem Licht verlor. Es war wunderschön hier, und zugleich spürte Nandalee die Angst, die sich seit Jahrhunderten ins Gestein gefressen hatte.
»Warten wir nicht, ob etwas aus dem See steigt. Lauft!«
A lte Macht
Es war Quetzalli völlig fremd geworden, von Zapote-Priestern mit Respekt behandelt zu werden. Seit sie zu Fleisch erklärt worden war, hatten aus ihrem Volk nur ihr Bruder und der Diener Ichtaca freundliche Worte für sie gehabt. Jetzt erinnerte sie sich wieder daran, wie es war, Ansehen zu besitzen. Sie stammte aus einer der ältesten Familien des Reiches. Ihr Urahn hatte als einer der Ersten vom Purpurfleisch gekostet.
All dies war nun zurückgekehrt. Sklavinnen hatten sie gewaschen und ihren nackten Leib mit öliger, schwarzblauer Farbe bemalt, von der das Blut des Auserwählten abperlen würde.
Um ihre Hüften war ein blütenweißes Seidentuch geschlungen, das noch nie zuvor getragen worden war. Jetzt schoben ihr die Sklavinnen die schweren goldenen Armreife über die Hände. Der Prunkkragen aus Gold und dunkler, alter Jade legte sich schwer und kühl auf ihre Schultern. Gedankenverloren betrachtete sie die feinen, schwarzen Linien, die zwischen Jade und Goldfassung lagen – es war eingetrocknetes Blut. Manches davon so alt wie die Pyramide, die sich vor ihr erhob. Sie stand zusammen mit den übrigen Priestern unter einem Baldachin aus Tausenden Federn. Es war ein Ort der letzten Einkehr, wo die Sklaven ihnen ihre Prunkgewänder anlegten und sie sich gesenkten Hauptes darauf vorbereiteten, einem Gott gegenüberzutreten.
Sklavinnen legten ihr den Federmantel um, den sie so lange nicht getragen hatte, und befestigten ihn mit Seidenschnüren am Kragen. Zuletzt wurden ihre Haare mit goldenen Kämmen hochgesteckt, die mit sich windenden Schlangen geschmückt waren. Sie war bereit.
Alle Blicke ruhten auf ihr. Sie spürte den alten Respekt. Es war, als sei sie nie fort gewesen.
Der ganz schwarz geschminkte Klingenhüter, der die Auserwählten durch den Schlangenschlund führte, trat vor sie, verbeugte sich ehrerbietig und reichte ihr mit beiden Händen das alte Opfermesser.
»Tochter der Schlange, nimm ein Leben, um Leben zu schenken«, sagte er feierlich, wie der Ritus es vorschrieb.
»Meine Hand wird auf dem schlagenden Herzen eines Helden ruhen, wenn deine Klinge scharf genug ist«, antwortete Quezalli feierlich. Sie hatte keines der Worte vergessen. Sie war wieder in ihre alte Haut geschlüpft, als sei sie niemals zur Gespielin der Jaguarmänner gemacht worden. Seit Jahrhunderten waren die Frauen ihrer Familie Priesterinnen gewesen. Hier zu stehen war ihre Erfüllung. Hier war sie ganz sie selbst.
Quetzalli nahm das Opfermesser entgegen, dessen Obsidianklinge die Farbe eines dunklen Waldsees hatte. Es lag vertraut in ihrer Hand, obwohl ein ganzes Leben vergangen zu sein schien, seit sie zum letzten Mal dieses Messer entgegengenommen hatte. Es stand den Jägerinnen zu, jene zu opfern, die sie in die Tempelgärten gebracht hatten. Die meisten machten von diesem Vorrecht keinen Gebrauch, doch Quetzalli hatte es stets als Ehre empfunden, zu Ende zu bringen, was sie im Namen der Gefiederten Schlange begonnen hatte.
Gemessenen Schrittes begann sie den steilen Aufstieg zum Opferstein hinauf. Sie ging allein, konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. Ihr durfte nur der Klingenhüter folgen, und auch er musste Abstand halten.
Erst als sie die Hälfte der Treppen erklommen hatte, fiel ihr auf, dass etwas anders als sonst war.
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