Die Liebe verzeiht alles
1. KAPITEL
„Mir ist heiß. Ich habe Hunger. Hier stinkt es. Ich muss mal. Du fährst zu langsam.“
Dieses Kind kann sich beklagen, ohne ein einziges Mal Luft zu holen, dachte Lilah Owens gereizt und umklammerte das Lenkrad. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Elfjährige und mahnte sich zur Geduld. Sabrina, kurz Bree genannt, hatte in den letzten Wochen viel durchgemacht.
Lilah allerdings auch. Außerdem schwitzte sie, hatte Hunger und musste ebenfalls verschwinden. Und deshalb hielt sich ihr Mitgefühl in Grenzen. Sie atmete tief durch und antwortete genauso ohne Pause: „Wenn dir zu heiß ist, lutsch einen Eiswürfel. Vor fünf Minuten hast du eine ganze Tüte Weingummi gegessen. Wir sind gerade an einer Schaffarm vorbeigekommen, weshalb es nicht unbedingt angenehm riecht. Du kannst zur Toilette gehen, sobald wir am Ziel sind. Dieser Wagen fährt so schnell, wie er kann. Wenn es dir nicht passt, steig aus und geh zu Fuß.“
Lilah war ziemlich zufrieden mit sich, doch dieser Zustand währte nicht lange, denn im nächsten Moment öffnete Bree bei Tempo sechzig die Beifahrertür.
„Bist du verrückt geworden?“ Hastig streckte Lilah den Arm an dem glücklicherweise angegurteten Mädchen vorbei und zog die Tür mit einem heftigen Ruck zu. „Tu das nie wieder! Willst du uns umbringen?“ Wütend und fassungslos funkelte sie die Elfjährige an, die lässig die Schultern zuckte.
Dann konzentrierte sie sich wieder auf den Highway und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie die Fahrt von Kalifornien nach North Dakota überleben würden. Die Spannung zwischen ihnen war mit jedem Kilometer gestiegen.
Nachdenklich sah sie in die Ferne, vergaß für kurze Zeit ihren Zynismus und stellte sich vor, dass hinter der Sonne irgendwo der Himmel wäre. Ich weiß, dass ich versprochen habe, mich wie eine Mutter zu verhalten, Gracie, sagte sie stumm zu ihrer vor achtundzwanzig Tagen verstorbenen Freundin. Sollte es einen Himmel geben, dann verdiente Gracie dort einen Ehrenplatz.
Grace McKuen war ein wundervoller Mensch gewesen. Aber eines hat sie völlig falsch eingeschätzt, dachte Lilah: meine Fähigkeiten, mich um ein Kind zu kümmern. Vor vier Monaten hatte die Vierzigjährige bemerkt, dass ihr Körper die zweite transplantierte Niere abstieß. Vier Wochen später war sie mit Bree bei Lilah eingezogen und zwei Monate danach gestorben. Was zur Folge hatte, dass Lilah fast unvorbereitet und übergangslos vom neunundzwanzigjährigen Single zur Mutter einer Elfjährigen werden musste.
„Ich habe ein Hinweisschild gesehen. In drei Kilometern kommt eine Tankstelle mit Shop.“
„Wie ich dir schon sagte, habe ich in der Gegend gewohnt, bis ich siebzehn war. Die einzige Tankstelle an dieser Landstraße, die durch die Käffer führt, wurde 1989 geschlossen. Du wirst also warten müssen, bis …“
„Inzwischen bist du eine Ewigkeit älter. Es hat sich einiges geändert“, gab Bree ungerührt zurück und zeigte nach draußen. „Und was ist das da vorn?“
Lilah traute ihren Augen nicht, als sie die Hinweistafel erblickte. „Okay, wir legen einen kurzen Toilettenstopp ein“, antwortete sie und sagte mehr zu sich selbst: „Unfassbar, dass jemand hier einen Minimarkt eröffnet hat, wo kaum Geschäfte zu machen sind und das meiste eher schlecht werden dürfte.“
„Vielleicht verkaufen sie Sachen an Kinder, deren Vormund nicht versucht, sie zu quälen und auszuhungern. Ich muss ganz dringend.“
Lilah biss die Zähne zusammen und bog vom Highway ab. Wäre es nach ihr gegangen, wären sie weitergefahren. In etwa einer Viertelstunde könnten sie beim Haus ihrer Schwester sein. Und sie sehnte sich nach Netties tröstender Umarmung, ihrem mitfühlenden Lächeln und freundlichen Zuspruch. Sie brauchte dringend jemanden, der sie genug kannte, um zu verstehen, wie viel Angst ihr die neue Mutterrolle einjagte.
Sie parkte den Wagen vor einem hübschen Geschäftslokal, das an eine altmodische Gemischtwarenhandlung erinnerte. An einem der Fenster des rustikalen Holzbaus war in großen Lettern geschrieben: Kostenloses Eiswasser und freie Toilettenbenutzung.
Irgendwie muss es mir doch gelingen, mit einer wütenden Elfjährigen zurechtzukommen, überlegte sie und sagte betont heiter: „Okay, sehen wir uns mal die Toiletten an, und dann …“
Bree war schon ausgestiegen und stürmte jetzt auf die Glastür des Minimarktes zu, bevor Lilah sich überhaupt losgeschnallt hatte. Spar dir den fröhlichen Ton für jemanden auf,
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