Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
Jahrhunderte überstanden haben, aber sein Herz war gestorben, als seine Gefährten fielen. Immer wieder wandte sich der schwarzhaarige Elf um. Er dachte nicht an Nangog. Er fürchtete allein das Ungeheuer, das die Devanthar erschaffen hatten.
Schweigend stiegen sie immer weiter in die Tiefe. Der Boden der Höhle war sanft abfallend. Wie lang war der Weg, der vor ihnen lag? All ihre Gefährten wirkten bedrückt. Vor ihnen lag Nangog, hinter ihnen der Schlangendrache, der Manawyn besiegt hatte – sie waren dem Untergang geweiht. Die Himmelsschlangen hatten sie geopfert!
Lyvianne wurde sich bewusst, dass sie ihr eigenes Ziel niemals erreichen würde, vollkommene Kinder zu gebären. Sie sah zu Gonvalon, der sich nah bei Nandalee hielt. Er ahnte nicht, wer seine Mutter war, ahnte nicht, dass er in der Weißen Halle jahrelang an ihrer Seite gelebt hatte. Vielleicht hatte sie ihre Kinder an den falschen Maßstäben gemessen? Sie hatte ihn im Schnee zurückgelassen, damit er starb. Aber er war stärker gewesen, als sie erwartet hatte. Die Gabe des Zauberwebens war nicht mächtig in ihm gewesen. Er war keine jener Lichtgestalten, die in ihren Träumen eines Tages die Nachfolge der Alben antreten würden. Elfen, die eine Macht in sich versammelten, die sie über alle anderen Geschöpfe Albenmarks stellte. Sie würden gerechte Herrscher sein und eine Welt der Schönheit und Harmonie erschaffen.
Sie hätte gerne Nandalee als ihre Schülerin gehabt. Sie war von ihnen allen am nächsten an jenem Ideal, von dem Lyvianne träumte. Wenn sie nur nicht so eine unbeherrschte Barbarin wäre! Sie folgte viel zu sehr ihren Gefühlen. Daraus konnte nichts Gutes erwachsen. Weise Entscheidungen wurden mit Bedacht getroffen, nicht auf der Grundlage von Emotionen. Aber vielleicht würde sie das noch lernen … Lyvianne lächelte. Nein, eher nicht.
Auch Nodon war nahe an dem Ideal, dem sie so lange schon folgte. Vielleicht etwas zu beherrscht. Lyvianne erlaubte sich, durch ihr Verborgenes Auge seine Aura zu studieren. Er war vollkommen in Harmonie mit sich und dieser fremden Welt. Er haderte nicht mit seinem Schicksal, ging ohne Furcht dem entge gen, was sie hier erwartete. War das Mut oder einfach nur ein Man gel an Fantasie?
Bei allen anderen sah sie Spuren von Furcht in ihrer Aura. Vor allem bei Bidayn und Manawyn. Der erste Meister ging hinten. Er hatte seine alte Kraft nicht wiedererlangt. Seine Aura war unstet wie ein Kerzenlicht im Wind.
Am stärksten strahlten die Auren von Gonvalon und Nandalee. Sie waren miteinander verschmolzen. Nicht einfach überlagert, wie es geschah, wenn man dicht beieinanderging. Ihnen wohnte eine Harmonie inne, die sie gleich sein ließ. War das Liebe?
In Eleborn hingegen brannte eine kalte, beherrschte Wut. Er hatte den Tod des Himmlischen nicht verwunden. Es war gut, dass er hier unten war, als Teil dieser Mission, von der es keine Wiederkehr geben konnte. Wohin hätte er gehen sollen in Alben mark? Ein Drachenelf, der seine Himmelsschlange verloren hatte … Das hatte es noch nie gegeben. Daraus konnte nichts Gutes erwachsen.
Sie dachte an all ihre Kinder, deren Seelen sie hatte fliegen lassen, damit sie ein langes Leben in einer unvollkommenen, fleischlichen Hülle überspringen konnten und einen Schritt weiter im Zyklus aus Tod und Wiedergeburt gingen. Wie viele von ihnen waren bereits zurückgekehrt? Hätten sie das Opfer verstanden, das sie ihnen gebracht hatte?
Ein seltsames Funkeln riss sie aus ihren Gedanken. Aus der Decke hoch über ihnen ragte ein grüner Kristall. Er musste groß wie der Stamm einer hundertjährigen Eiche sein, wenn sie ihn von hier unten so deutlich sehen konnten. Auch an den Höhlenwänden befanden sich nun Einsprengsel aus grünem Kristall. Was hatte es damit auf sich?
Ihr Verborgenes Auge enthüllte Lyvianne eine Aura aus goldenem Licht, das den riesigen Kristall pulsierend umhüllte. Er war lebendig, dachte Lyvianne überrascht. Das war anders als in Alben mark. Auch dort war alles in das magische Netz eingebunden, doch Steine und Metalle waren tot.
Weit hinter ihnen war ein dumpfes Geräusch zu vernehmen, und der Boden unter ihren Füßen erzitterte.
»Er kommt!«, rief Manawyn. »Er weiß, dass wir hier sind.«
»Lauft!«, befahl Nandalee und verfiel in den ausdauernden Trab der Jäger.
Bidayn war sehr blass. Lyvianne konnte sich gut vorstellen, was in ihrer Schülerin vorging. Die junge Elfe wusste, dass sie die schlechteste Läuferin von ihnen allen war.
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