Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
»Sie ist heute Morgen aus dem Haus gegangen.«
»Du meinst, sie ist abgehauen?«
»Nein, gegangen. Sie weiß doch nichts von deinem Geschenk. Sie war schon fort, als ich ankam.«
»Dann hol sie zurück. Wohin kann sie schon gegangen sein?«
»Zum Hafen«, entgegnete Eurylochos angespannt. »Aber sie kommt wieder. Ich bin ihr nachgelaufen, aber sie war schon auf dem Fluss. Sie will irgendjemanden treffen. Ihre Diener wissen auch nicht mehr. Ich habe wirklich alles versucht, deshalb komme ich so spät. Sie wird in zwei oder drei Tagen wieder zurück sein. Was sind schon zwei Tage?«
»Oder drei«, entgegnete Kolja eisig. »Sie ist unsere Hure und läuft herum, wie es ihr gefällt. Ich stehe mir hier in einem Blumengarten die Beine in den Bauch, und sie kommt nicht, wenn ich nach ihr rufen lasse! So hat mich kein Weib mehr behandelt, seit mir der erste Bartflaum gesprossen ist. Sie macht mich zum Gespött.«
»Ganz sicher nicht, Kolja. Keiner wagt es, über dich zu spotten.«
Der Drusnier ging nicht darauf ein. Er wusste es besser. Wusste, dass man ihn hinter seinem Rücken »Fleischkopf« nannte und sich erzählte, dass man die Weiber mit verbundenen Augen zu ihm bringen musste, weil keine den Anblick seines Narbengesichts ertrug. Das waren Lügen!
»Gibt es irgendetwas, das ihr im Leben viel bedeutet? Irgendjemanden, der ihr besonders nahesteht?«
»Das ist nicht der richtige Weg, Kolja. Bedenke, sie hat mächtige Freunde. Was wird geschehen, wenn wir den Zorn eines Statthalters auf uns ziehen. Sie ist die Seidene und nicht irgendein Gossenmädchen. Bei ihr gelten andere Gesetze.«
»Andere Gesetze?« Kolja schnaubte verächtlich. »Es gibt nur ein Gesetz, und das ist immer gleich. Es ist das Gesetz des Stärkeren. Glaubst du, sie kann mir ihren Willen aufzwingen?«
»Aber das tut sie doch gar nicht!«, begehrte Eurylochos auf. »Sei doch nicht so verdammt stur. Sie hatte keine Ahnung, dass du auf sie wartest.«
»All unsere Mädchen fragen, bevor sie irgendwohin gehen. Und wenn es uns gefällt, dann erteilen wir ihnen die Erlaubnis dazu. Meistens sind wir großzügig. Und unsere Mädchen lieben uns dafür. Wir stecken ihnen enge Grenzen. Und manchmal erweitern wir sie ein klein wenig. Als Ausnahme versteht sich. Und sie lieben uns dafür und sind uns dankbar.« Koljas Stimme wurde gefährlich leise, als er fortfuhr: »Mit dieser Seidenen hast du alles falsch angestellt. Sie kennt keine Grenzen. Zu viel Freiheit macht Menschen undankbar. Sie hält sich für eine Königin, nicht wahr? Ich werde sie daran erinnern, dass sie nur eine Dirne ist. Folge mir, Eurylochos, und lerne! Habe ich dir jemals die Geschichte von dem Bauern erzählt, dem man seinen Esel gestohlen hat?«
D er Irre ohne Nase
»Der ist es?« Kolja blickte auf einen jungen Mann mit vernarbtem Gesicht. Seine Nase war eingedrückt, nur noch ein dunkles Loch. Er schielte. Er schien sich zu freuen, dass ihn jemand besuchte und lächelte arglos.
»Er ist nicht ganz bei sich«, erklärte der Alte, der sich erst nach einer größeren Spende bereit erklärt hatte, ihn zu dem Jungen vorzulassen. »Ist verschüttet worden. Soweit ich weiß … War mehr tot als lebendig, als sie ihn uns vor die Tür gelegt haben.«
Kolja sah sich abschätzend um. Die Kammer, in der er sich be fand, war klein, aber sauber. Der junge Mann kauerte auf einem Strohsack. Es kam nicht oft vor, dass er einen Lebendigen traf, dessen Gesicht übler zugerichtet war als sein eigenes.
»Was weißt du über ihn?«
Der Alte strich sich über sein stoppeliges Doppelkinn. »Schwierig …«
Kolja hatte verstanden. Barmherzige Brüder nannten sich diese Geier, in Wahrheit ging es ihnen nur um Geld. Es stimmte zwar, dass sie den Auswurf der Gosse aufnahmen, aber immer nur für drei Tage. Wer es in dieser Zeit schaffte, wieder auf die Beine zu kommen, hatte Glück. Wer nicht, den setzten sie unbarmherzig wieder auf die Straße. Es sei denn, es fand sich jemand, der für ihr Wohlergehen zahlte, so wie bei diesem jungen Mann. Den barmherzigen Brüdern schien es bei diesem Handel nicht schlecht zu gehen. Bruder Sanftmut war jedenfalls wohl genährt.
Kolja schnippte dem Dicken eine Silbermünze zu. »Hilft das, dich zu erinnern?«
Der Bruder biss in die Münze und grunzte zufrieden. »Der Junge bekommt alle paar Tage Besuch von einer Dame. Sie trägt immer eine Maske. Ist eher schlicht gekleidet. Aber arm kann sie nicht sein. Lässt immer etwas hier, für ihn und für uns. Das geht
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