DRACHENERDE - Die Trilogie
Boden.
Rajin war rechtzeitig weit genug zurückgewichen, so als hätte er sogar die Fallrichtung und –weite des gewaltigen Körpers vorausgesehen. Der Kopf lag reglos und mit erstarrtem Blick zu seinen Füßen, während von seiner Klinge noch das Drachenblut troff.
Rajin atmete tief durch. Er fühlte, wie sich die verborgene innere Kraft wieder in jene Tiefen seiner Seele zurückzog, in denen sie so lange geschlummert hatte.
„Du weißt nicht, was du getan hast!", wisperte die Stimme des Weisen Liisho in Rajins Kopf. „Auch wenn man es dir als Heldentat anrechnen wird – es war nichts anderes als pure Dummheit!"
Die Blicke aller waren auf Rajin gerichtet. Der grün-gelb gefleckte Drache zog unterdessen eine Schleife über den Häusern von Winterborg. Aber anstatt einen Angriff zu wagen, stieg er weiter empor. Einige Pfeile, die auf ihn abgeschossen wurden, fielen wieder in die Tiefe, ohne dass sie ihr Ziel hätten erreichen können. Der Pfeil eines guten Reflexbogens konnte auf dreihundert Schritt genau treffen und auf hundertfünfzig noch einen Harnisch aus Feuerheimer Stahl oder ein Kettenhemd, wie es die Krieger im Süden trugen, durchdringen. Aber schoss man senkrecht in Höhe, verhielt sich der Pfeil vollkommen anders, als wenn man ihn waagerecht auf ein Ziel abschoss, und an der Sternenseher-Schule zu Seeborg rätselten die Weisen schon seit mehreren Menschenaltern darüber, welche Kraft man dafür verantwortlich machen konnte, dass es viel schwieriger war, hochfliegende Vögel, Drachen oder ein tajimäisches Luftschiff zu treffen als einen viel weiter entfernten Feind an Land oder zur See. Es musste eine rätselhafte magische Energie sein, die all diejenigen schützte, die fähig waren, sich in die Lüfte zu erheben, und es ärgerte die Gilde der Sternenseher seit Langem, dass ihnen diese Art der Zauberei bislang verschlossen geblieben war.
Inzwischen hatte fast ein Dutzend Männer Pfeil und Bogen schussbereit in der Hand, und noch einmal wurden die Bögen gespannt. Aber auch diese Geschosse verloren nach wenigen Masthöhen bereits an Kraft und fielen dann wirkungslos zu Boden. Sie gingen irgendwo auf den kargen, zumeist von Moos bewachsenen Flächen rund um Winterborg nieder. Der gelb-grün gefleckte Drache aber stieg sicherheitshalber noch ein Stück höher. So hoch, dass er aus der Entfernung kaum größer als eine Ente wirkte. So hatte sein Brüllen auch nicht mehr die bedrohliche Kraft wie zuvor, dafür klang es eher wie höhnisches Triumphgeheul.
Für einen kurzen Moment spürte Rajin die geistige Berührung mit diesem Wesen. Er hätte nicht in Worte fassen können, was der Drache ihm dabei übermittelte. Es war eine seltsame Mischung aus vollkommen fremden Gedanken, Bildern und Eindrücken. Zu fremdartig, um sie auch nur ansatzweise verstehen zu können.
Dafür meldete sich die Stimme des Weisen Liisho umso klarer in seinem Kopf.
„Du hast dich ihm zu erkennen gegeben, Rajin. Mehr hat er gar nicht gewollt …“
Der Drache zog davon, und niemand wäre in der Lage gewesen, ihn aufzuhalten. Schon nach kurzer Zeit war er weit draußen über dem Meer in einer Wand aus grauem Dunst verschwunden.
Wulfgar Wulfgarssohn trat zu Rajin und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ihr habt alle gesehen, was geschehen ist!“, rief er. „Viele von euch haben tief in ihren Herzen immer bezweifelt, ob es eine gute Entscheidung war, das Findelkind, das uns Njordir vor achtzehn Sommern schickte, anzunehmen und aufzuziehen, statt es zurück in Njordirs Reich zu werfen. Ja, so mancher von euch hat Bjonn für einen Unglücksbringer gehalten. Aber heute hat er allen bewiesen, dass dies nicht der Wahrheit entspricht! Mein Sohn Bjonn Dunkelhaar hat an einem Tag ein Seemammut erlegt und Winterborg vor zwei marodierenden Wilddrachen beschützt, die ein übellauniges Schicksal an unsere Küste lockte. Kein Unglücksbringer ist er – sondern ein Held, über dessen Taten man sich noch Geschichten an den Winterfeuern erzählen wird, wenn seine Gebeine längst in der See versunken und seine Seele bei Njordir eingegangen ist. Und da die Götter ihm die hässliche Form seiner Augen offenbar nicht zum Vorwurf machen, sollte es auch keiner von euch länger tun!“
Hier und dort war zustimmendes Gemurmel zu hören – aber Rajin entging nicht, dass es vor allem aus Wulfgar Wulfgarssohns Sippe und Gefolge kam. Die meisten anderen Bewohner Winterborgs waren fassungslos und starr vor Trauer über die Verluste, die
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