DRACHENERDE - Die Trilogie
erreichten, zügelte Rajin sein Reittier, drehte sich noch einmal im Sattel um und blickte zurück.
Eine Handvoll Lichter am Ozean – so wirkte Winterborg aus der Entfernung. Und die meisten dieser Lichter brannten gar nicht in dem Ort selbst, sondern ein Stück weiter am Strand, wo der Kadaver des Seemammuts bewacht wurde.
„Komm jetzt, Bjonn!“, forderte Bratlor ihn auf. „Schau nicht zurück.“
„Nur einen Moment …“
„Beim Heiligtum des Fjendur wirst du Antworten auf die bohrenden Fragen in dir erhalten“, sagte Bratlor, und Rajin fragte sich, woher sein Gefährte wusste, dass das Heiligtum sein Ziel war. Doch Bratlor schien es einfach vorauszusetzen, dass Rajin versuchen würde, das Orakel zu befragen.
„Jedenfalls scheint dieses Heiligtum mein Schicksal zu sein …“, murmelte er.
Oft genug war er dort gewesen, um zusammen mit den anderen Männern aus Wulfgar Wulfgarssohns Sippe die Schwerter und Äxte mit dem Zauber Fjendurs zu versehen. Aber zum Orakel war er nie vorgedrungen. Das war das Vorrecht des Sippenältesten, wofür er allein eine Höhle in der Nähe des Heiligtums betrat, wo er eine Opfergabe ablegte und sich Fjendurs Gedanken hingab. In der Regel hatte Wulfgar über das, was er in der Höhle erlebt hatte, geschwiegen. So forderte es die Tradition. Der Sippenführer sollte durch das Orakel Weisheit erlangen und Gefahren, die erst in der Zukunft entstanden, erkennen. Ihm allein wurde die Last dieses Wissens auferlegt, damit es seinen Männern nicht die Tatkraft und den Siegesmut nahm, falls das Orakel schlechte Nachrichten offenbarte.
Umgekehrt sollte aber eine gute Orakelbotschaft nicht zu übersteigerter Selbstsicherheit und Leichtsinn führen. Denn auch wenn man Fjendur einen besonders klaren Blick auf die Muster des Schicksalsteppichs zubilligte, den Groenjyr knüpfte, so galt der Schicksalsgott des grünen Mondes doch als sehr unzuverlässig, weil er ein trunksüchtiger Gesell war. Schon so manches Mal hatte er das Muster seines Teppichs aus einer Laune heraus wieder verworfen und in aller Eile etwas ganz anderes gefertigt, und auch ansonsten wiesen seine Werke üble Webfehler auf.
Also war eine gute Botschaft durch Fjendurs Orakel keineswegs eine Garantie auf eine gute Zukunft, auf gute Geschäfte, siegreiche Kriege oder eine erfolgreiche Seemammutjagd. Die Legenden der Seemannen erzählten von zahlreichen Helden, die sich auf ein gutes Orakel verlassen und gerade deshalb ein furchtbares Schicksal hatten erleiden müssen, aber auch von solchen, die nach einer vernichtenden Orakelbotschaft gegen alle Schicksalsmächte doch noch ihr Glück fanden.
Einmal hatte jemand im Kapitänsrat von Winterborg sogar den Vorschlag gemacht, das Erzählen solcher Geschichten zu verbieten, da sie die Ehrfurcht vor den Göttern zunichte machen könnten. Aber die Winterabende im äußersten Norden des Seereichs waren einfach zu lang, als dass sich ein derartiges Verbot hätte durchsetzen können.
Nur ganz selten war es vorgekommen, dass ein einfacher Seenmanne das Orakel aufgesucht hatte. Denn dafür musste ein besonderer Grund vorliegen, und in den Legenden war der Betreffende stets allein ins Innere des Gletscherlandes geritten.
„Warum glaubst du, dass das Orakel mir antworten wird?“, fragte Rajin. „Wer es grundlos aufsucht, dem gegenüber schweigt es.“
„Du selbst bist doch davon überzeugt, dass du dort Antworten finden wirst“, entgegnete Bratlor. „Außerdem habe ich dein Schwert im Kampf gegen die Wassermenschen glühen sehen – das ist ebenso ein Zeichen dafür, dass du etwas Besonders bist und die Götter Pläne mit dir haben, wie die Art und Weise, wie du den Drachen bezwungen hast.“
„Und du meinst, das Orakel weiß diese Zeichen zu deuten?“
„Fürchtest du dich vor der Wahrheit, oder was ist auf einmal los mit dir?“
Rajin schüttelte den Kopf. „Nein.“
Bratlor lachte auf. „Das ist eine Lüge – denn vor solchen Wahrheiten fürchtet sich jeder. Aber die Ungewissheit ist auf Dauer quälender.“
8. Kapitel
Das Heiligtum
Als der Morgen graute und die Monde verblassten, befanden sich Rajin und Bratlor längst in einer trostlosen Schnee- und Eislandschaft. Aus der Entfernung waren Riesenschneeratten in dieser Umgebung so gut wie unsichtbar. Vor langer Zeit, an die man sich selbst in den Tagen Wulfgar Eishaars kaum noch hatte erinnern können, waren die Männer der Seemannen häufiger ins Landesinnere gezogen, um Riesenschneeratten oder ihre
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