Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt
sie niemanden. Andererseits hielt sie in ihrer derzeitigen Lage ein bisschen Misstrauen durchaus für angebracht. Und ein ordentliches Durcheinander eröffnete gewisse Möglichkeiten.
Nachdem sie die Deckung der Bäume verlassen hatte und noch bevor sie die ersten Häuser erreichte, kam Auguste an einem einzelnen gelb-orangen Schild vorbei. Darauf stand in dicken Lettern ein Name. Noch einmal bildete sich auf ihrer Stirn eine steile Falte, während sie ihn mühsam entzifferte. Sorgfältig setzte sie die drei Silben zusammen, blickte dann zu den Häusern hinüber, zuckte mit den Schultern und machte sich ins Gewirr der Straßen auf.
Der Name lautete „Schinkelstedt“.
Schinkelstedt am Bärenstein war eines der touristischen Kleinodien Mitteldeutschlands. Seine Bewohner befanden sich seit mehreren Generationen in einem Stadium der Rückzüchtung und gehörten so ziemlich zum Urtümlichsten, das diese Gegend zu bieten hatte.
Zwar erfreute sich der Ort selbst einer eher jüngeren Geschichte, doch tat das den finanziellen Ambitionen seiner Einwohner keinen Abbruch. Ein oder zwei Jahrhunderte lang hatten sich ihre Ahnen den Lebensunterhalt aus dem kargen Fels heraus gewirtschaftet. Dann kam der ehrwürdige Nepomuk Schlotter, damaliger Bürgermeister und mittlerweile Schutzpatron aller Schinkelstedter, auf die Idee, sich dem Fremdenverkehr zu widmen.
Daraus ergaben sich für den Ort zunächst einige Probleme. Auf der einen Seite hatte man die große Zeit der Hexen und ihrer Verfolgung – gewöhnlich das Aushängeschild der Region – hier überhaupt nicht erlebt. Zum anderen lag das Dorf auch bei allem guten Willen irgendwo tief im Niemandsland zwischen allen auch nur halbwegs bekannten touristischen Attraktionen.
Doch auch dafür hatte der findige Schlotter bald eine Lösung parat. Durch einen Zufall ergab es sich, dass er eines Abends im Wirtshaus sitzend und betrübt in sein Bier blickend die Bekanntschaft eines jungen Dichters machte. Damals war es bei empfindsamen Gemütern Mode, möglichst ausgedehnte Reisen durch gottverlassene Gegenden zu unternehmen.
Dieses spezielle Exemplar, dessen Name der Nachwelt leider entglitt, wurde von Nepomuk Schlotter so lange bezecht, bis er versprach, die Sage der Roten Walpurga zu schreiben – einer alten Hexe, die nach vielen Verfolgungen und Leiden hier, im Frieden dieser menschenleeren Gegend, endlich Ruhe fand und einträchtig mit den Tieren des Waldes lebte.
Nachts habe sie sich in einer unweit gelegenen Höhle zur Ruhe gebettet, wobei Rehkitze und Kaninchen sie mit ihren flauschigen Leibern bedeckten, und tagsüber badete sie in natürlichen Quellen und braute fröhlich lokale Schnäpse. Just dabei sei sie eines Tages mit entrücktem Lächeln verschieden.
Nachdem der Ort nunmehr über eine berühmte Figur verfügte, machte man sich daran, die Gasthäuser aufzupolieren. Man erweiterte die Speisekarten um einige Spezialitäten und bildete wacker Bräuche aus, die es nur in diesem Ort gab und die in ihrer Verschrobenheit deshalb umso pittoresker wirkten.
So wurde es bei den Schinkelstedter Löffelschnitzern beispielsweise Tradition, als einzig angemessenes Werkzeug die Zähne der eigenen Großväter zu verwenden. Die Güte der einheimischen Speiseinstrumente erhöhte sich dadurch nicht unbedingt, doch für Touristen haftete ihnen ein unwiderstehlicher Zauber an.
Als der selige Nepomuk Schlotter am Ende eines arbeitsamen Lebens verschied, schien die Rechnung langsam aufzugehen. Immer mehr Reisende kehrten in dem kleinen Schinkelstedt ein und priesen die friedvolle Geschichte der Roten Walpurga. Die Nachfolger des Bürgermeisters erweiterten den Ort um einige Busparkplätze und Cafés, verwandelten den Marktplatz in einen fortdauernden Jahrmarkt, und bald schon galt Schinkelstedt als erste Pflichtetappe auf dem Weg zu den Wundern der Region.
Das Zeltgemenge des Jahrmarkts wucherte immer weiter in den Ort hinein, und kein Schinkelstedter hatte es mehr nötig, seinen Lebensunterhalt aus dem harten Stein zu kratzen. Zum Dank errichtete man sowohl dem seligen Nepomuk Schlotter wie auch der Roten Walpurga ein Denkmal. Letzteres aber stand in einem zweifelhaften Ruf. Denn wenn man auch nicht sagen konnte, woher es kam, schien in ihrem Blick doch stets etwas Betrübtes zu liegen. Dieser Umstand erfüllte die Schinkelstedter mit Verlegenheit. Vielleicht lag es daran, dass auch die Ruhe, deretwillen sie einst hierherflüchtete, lange schon Geschichte war.
Für Auguste war es
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