Drachengasse 13, Band 02
genau dort vorgefallen war, wusste Sando nicht. Die Zwerge redeten nicht gern über diese Ecke Bondingors. Es hatte wohl mehrfach grausige Todesfälle dort gegeben, zuletzt vor zwanzig Jahren. Danach hatte der Steinrat der Zwergenklans beschlossen, die ganze Gegend aufzugeben. Man hatte eine hohe und sehr dicke Mauer errichtet, die seitdem Tag und Nacht von Freiwilligen der Zwergenwehr bewacht wurde. Diese Schwelle , wie die Mauer gemeinhin genannt wurde, sollte das Übel aussperren, das in den Verbotenen Hügeln hauste. Gleichzeitig verhinderte sie, dass sich irgendwelche Zwerge versehentlich dorthin verirrten.
Und so hatten die Zwerge Erde aufgeschüttet, Steinquader aufeinandergestapelt und Holzpfähle in den Boden gerammt, um kleine Ausguckposten darauf zu errichten. Um Zeit und Arbeit zu sparen, hatten sie zudem ganze Häuserreihen, die an die Verbotenen Hügel grenzten, mit eingemauert. Sie hatten die Zimmer einfach mit Erde gefüllt, die Türen und Fenster mit Brettern vernagelt und zwergische Schutzrunen auf die Dachschindeln gemalt. Was immer jenseits der Schwelle lauerte, jagte ihnen eine Heidenangst ein.
Doch die Schwelle war damals in großer Hast errichtet worden. Daher gab es an vielen Stellen Löcher, durch die man heimlich schlüpfen konnte, wenn man mutig – oder dumm – genug war, sich in die Verbotenen Hügel zu wagen.
Was von beidem sind wir? , fragte sich Sando. Mutig? Oder dumm?
Er huschte in den Schatten des trutzigen Steinhauses auf der anderen Seite der Straße. Mit leisem Ächzen und Schnaufen schlossen sich ihm die sieben Zwerge an. Die Fenster waren mit breiten Holzbalken vernagelt. Sie hatten die Schwelle erreicht.
Irgendwo schlug eine Glocke zur Mitternacht.
„Los, weiter “ , drängte Wonkar.
„Warte “ , flüsterte Sando. Er deutete mit einem Finger nach oben in Richtung Hausdach.
Schwere Schritte waren von dort zu hören. Einer der Zwerge, die auf dem Wehrgang der Schwelle Wache hielten, spazierte auf seiner einsamen Streife über ihnen vorbei.
Die Grubenjungs hielten den Atem an. Ohne sich zu rühren, warteten sie ab, bis das Geräusch der schweren Lederstiefel des Wehrmannes wieder verklungen war.
„Jetzt aber “ , brummte Wonkar. Der Zwergenjunge griff an seinen Gürtel und holte einen kurzen Hammer hervor, der auf einer Seite spitz zulief. Dann trat er auf die Eingangstür des Hauses zu.
Mit einigen raschen, geübten Hebelbewegungen löste er die zwei schweren Balken, die kreuzweise vor die Tür genagelt waren. Sando nahm sie entgegen und lehnte sie vorsichtig an die Mauer. Nach ihrem Ausflug würden sie die Balken wieder vor die Tür nageln, damit niemand Verdacht schöpfte. Anschließend öffneten die Jungen die Tür und huschten ins Innere.
Dieses Haus gehörte zu den größeren Schlupflöchern in der Schwelle . Obwohl es mit Brettern verrammelt worden war, hatten die Zwerge nicht daran gedacht, sein Inneres mit Erdreich und Steinen zu füllen. So konnte man sich ganz bequem durch die niedrigen Räume bewegen, wenn man erst einmal hineingelangt war.
Im Gänsemarsch durchquerten Sando und die Zwerge das Erdgeschoss und liefen eine Treppe hinauf in den zweiten Stock. Dort, im ehemaligen Schlafgemach der längst ausgezogenen Bewohner des Hauses, gab es ein breites Fenster, das nach Süden zeigte – in Richtung der Verbotenen Hügel.
Die Holzsperren ließen sich hier viel leichter lösen, denn sie waren nur lose befestigt. Nicht zum ersten Mal gelangten die Grubenjungs auf diese Weise unerlaubt in die Verbotenen Hügel. Aber bislang waren sie immer nur am helllichten Tage dort gewesen, niemals nachts.
„Also schön “ , sagte Wonkar, als sie zusammen aus dem Fenster auf die dunklen Straßen der Verbotenen Hügel schauten. „Wir lassen dich jetzt an einem Seil nach unten, Bortha. Dann läufst du durch die Straßen bis dort drüben zu dem kleinen Turm. Siehst du ihn ?“ Er deutete auf ein dunkles Bauwerk, das über den Dächern der verlassenen Gegend aufragte. „Direkt unter dem Dach sind Fensteröffnungen. Ich möchte, dass du diese Kerze mitnimmst, dort anzündest und uns damit zuwinkst .“ Er zog einen Kerzenstummel und eine Zunderbüchse aus einer Tasche an seinem Ledergürtel und hielt Bortha beides hin. „Dann kommst du zurück und wirst feierlich zu einem von uns ernannt .“
Bortha presste die Lippen zusammen und nickte. „Ist gut “ , sagte er. Er sah ziemlich bleich aus, aber das konnte auch am fahlen Licht des beinahe vollen Mondes liegen,
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