Drachenkinder
diensteifrig herbei. »Bei uns sind die Söhne viel mehr wert als Töchter«, erklärte er stolz. »Der Sohn bekommt so lange die Brust, bis er satt ist. Erst dann wird die Tochter zur Resteverwertung angelegt.«
Hahaha. Sehr witzig. Die vierzehnjährige Mutter nickte ernst. Ja. So ist das bei uns. Und selbst wenn das junge Mädchen auf ihr Herz hören und ihrer Tochter genauso die Brust geben würde, käme sofort die Oma aus ihrer Ecke geschossen! (Die Oma war in meinem Alter, also Ende dreißig.) Denn die überwachte den Stillvorgang und auch sonst alles, was die weiblichen Wesen hier taten. Solche Hierarchien waren mir völlig fremd. Wie konnte es angehen, dass sogar Frauen der eigenen Familie diese himmelschreiende Ungerechtigkeit guthießen?
»Schnehage, kommen Sie, Sie dürfen die Rollstühle im Krankenhaus verteilen, die Sie gesammelt haben!« Beeindruckt ließ ich mich von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager fahren, von Camp zu Camp, von Lazarett zu Lazarett. Unglaubliches Elend schlug mir entgegen, die nackte Not. Witwen mit acht, zehn, zwölf Kindern, verwahrlost, unterernährt, starrten uns an und hielten flehend die Hände auf, zerrten an meinen Armen und bettelten mich wimmernd an. Zahnlose Münder, Eiterbeulen, Hautausschläge, Brandnarben in zerfurchten Gesichtern. Verzottelte Kinder spielten in Abwasserkanälen, aus denen es grausig stank. Die Menschen hockten einfach so am Boden, viele waren verstümmelt. Ein junges Mädchen »badete« ein schreiendes Baby in einer Blechschüssel mit brackigem Wasser. Es lachte mich an.
Eine andere verschleierte junge Frau walkte Wäsche in einer anderen Schüssel. Sie hockte auf zerschlissenenen Bastmatten, und ein Kind hielt den Wasserschlauch, aus dem es tröpfelte. Eine andere Familie kauerte am Boden, ich konnte auf Anhieb sieben Kinder unter acht Jahren ausmachen. Der Mann hatte besitzergreifend seinen Arm um die junge Frau gelegt, die ein Baby auf dem Schoß und eines im Bauch hatte. Alle lachten mich an. Diese Familie konnte sich glücklich schätzen, da sie nur den Verlust von Heimat, Haus und Hof zu beklagen hatte, aber keine schlimmen Verletzungen oder Todesfälle. Ein schmutziges Kleinkind war am nackten Fuß angebunden, damit es nicht wegkrabbeln konnte. Es presste einen kleinen struppigen Hund an sich. Der gesamte Besitz dieser Familie bestand aus einer Blechschüssel und einem gelben Trinkwasserkanister.
Wie im Traum schritt ich durch diese völlig fremde Welt und musste mich immer wieder in den Arm kneifen: Das hier war real und kein Bibelfilm! Das hier waren keine Statisten, die gleich in einen Wohnwagen verschwinden und sich wieder umziehen würden, bevor sie in die Kantine gingen! Die Frauen trugen lange bunte Gewänder, blaue oder gelbe Schleier, die Männer bodenlange Hemden, Turbane oder Gebetesmützen.
Als Nächstes fuhren wir fuhren zu einer Art Lagerschuppen, in dem meine Rollstühle standen und auf die Verteilung warteten. Auf dem ölverschmierten Vorplatz lungerten jede Menge junger Männer herum. Mit eingerosteten Gliedern sprang ich aus dem Führerhäuschen und spuckte in die Hände: So, dann wollen wir mal mit der Rollstuhlverteilung beginnen. Kommt her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid.
Als der Schuppen geöffnet wurde, prallte ich zurück: Ein unbeschreiblicher Gestank nach Fäkalien und – Entschuldigung, Pisse – raubte mir den Atem.
» DA stehen unsere Rollstühle?« Ich hielt mir die Nase zu.
»Ja! Hundert Stück! Gute Arbeit, Sybille!«
»Aber …« Sollte ICH da jetzt etwa reingehen und die Rollstühle rausholen?
»… ist das hier die öffentliche Toilette?«
»Für die Arbeiter – ja! Das darf man nicht so eng sehen.«
»Welche Arbeiter?« Ratlos sah ich mich um. Die Männer, die hier im Staub lagen und dösten, schienen sich nur zu erheben, um ihre Notdurft zu verrichten.
»Na hier! Sie BEWACHEN die Rollstühle. Das ist auch Arbeit.«
Aha. Mehr kam für sie offensichtlich nicht infrage. Denn als wir die sperrigen Dinger keuchend und fluchend aus diesem Scheißloch herauszerrten, um sie auf die Jeepladefläche zu wuchten, machten sie keinerlei Anstalten sich zu erheben. Stattdessen taxierten sie mich unverwandt und schienen sich sogar zu amüsieren, als ich »Könntet ihr vielleicht euren Arsch mal heben?« brüllte. Aber anscheinend hielten sie gerade ihre Ramadan-Entspannungs-Meditation: Sie durften den ganzen Tag nichts essen und trinken, und da durfte man sie nicht weiter
Weitere Kostenlose Bücher