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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Deutschland.
    Die Mitglieder der Hilfsorganisationen, darunter auch eine Medizinstudentin und ein engagierter junger Zivildienstleistender, stellten sich mit den Kindern ins Halbrund. »Und jetzt bitte noch mal enger zusammen, bitte den Arm um die Kinder legen!« Der Fotograf spähte durch seinen Sucher. Das entstellte »Monster«, jetzt wieder mit Gesichtsschleier, stand abseits. Es war kein bisschen süß und niedlich. Es war ein erwachsener Mann, dabei aber so schmächtig und verhungert, dass es kaum noch stehen konnte. Und es stank entsetzlich. Ich stellte mich dazu.
    Auch am nächsten Tag suchte ich seine Nähe. Niemand verabschiedete den Vermummten, als wir ins Flugzeug stiegen, keine weinende Mutter segnete ihn, kein Vater drückte ihn gerührt ans Herz.
    Während des zwölfstündigen Zwischenstopps in Karachi kuschelten die anderen mit den süßen Kleinen, wickelten sie in Schlafsäcke, brachten ihnen Knabbereien und etwas zu trinken.
    »Guckt mal, das Monster! Der geht doch tatsächlich auf die Damentoilette!«
    Die Studentin kicherte. Tatsächlich. Weil er mit den Buchstaben auf der Tür nichts anfangen konnte. Ich war verärgert. Da gab es nichts zu lachen!
    Sichtlich überfordert kehrte der Vermummte zurück. Ich tippte ihm auf die Schulter und bedeutete ihm, sich neben mich zu setzen. Eine innere Stimme sagte mir, dass es nicht weiter schwer war, sich mit den süßen Kleinen zu beschäftigen. Aber sich um das »Monster« zu kümmern, das war schon Schwierigkeitsstufe drei.
    Auch im Flugzeug setzte ich mich neben ihn. Zwei kleine Mädchen waren ebenfalls in meiner Obhut, eine Gehörverletzte, die ein Implantat bekommen sollte, und eine mit einem Hüftschaden. Sie alle würden Familien finden, die sie aufnehmen würden.
    Aber wer nahm das Monster?
    Die Stewardess teilte Trinkpäckchen aus. Angewidert wollte sie schon an ihm vorbeigehen, als ich sie am Rockzipfel festhielt und ihr bedeutete, auch ihn zu bedienen. Der musste doch irgendwas zu sich nehmen, und wenn es nur Fruchtsaft war!
    Der schwer Verstümmelte zog einen langen Schlauch mit Trichter aus seiner Tasche, hob das Tuch und führte die Magensonde in das Loch ein, das einmal sein Mund gewesen war. Saugen konnte er nicht (womit denn, keine Lippen!), und so tröpfelte ich den Saft durch Trichter und Schlauch und betrachtete mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid die tiefe Narbe über seinen Schlüsselbeinen. Wie ich später erfahren sollte, hatte sein Erstversorger hier mit dem Skalpell eine Atemöffnung für ihn gestochen, sonst wäre er jämmerlich erstickt.
    Ich atmete scharf aus. Sybille, dieser Flug dauert zwölf Stunden!, dachte ich. Na, dann mal los. Von wegen Bordentertainment und so.
    Ich kramte nach einem Kugelschreiber und einem Zettel und legte beides vor ihn hin.
    Seine Schriftzeichen konnte ich natürlich nicht entziffern, seine Gurgellaute nicht verstehen, aber dennoch gelang es mir mit Hilfe eines Afghanen von der HFA in den nächsten Stunden, mich halbwegs schlau zu machen.
    Sein Name war Dadgul. Dadgul Delawar. Er war neunundzwanzig Jahre alt und hatte eine schwangere Frau und drei kleine Kinder in Katachel, seinem Heimatort unweit von Kunduz, zurückgelassen.
    Mit sechzehn Jahren war er von der Regierung gefangen genommen, nach Kabul gebracht und so lange im Gefängnis gefoltert worden, bis er bereit gewesen war, Soldat zu werden. Für die damals kommunistische Regierung der Russen, die Afghanistan eingenommen hatten. Das verstieß gegen all seine Überzeugungen, und so riss er aus, ging in den Untergrund und wurde Mudjahed. Die russische Armee griff seinen Heimatort Katachel an, warf Bomben und tötete in einer Nacht achtzig Zivilisten. Dadgul fand seinen Vater und seine zwei jüngeren Brüder tot in den Trümmern. Er begrub sie und wurde danach von den hilflosen, überlebenden Mitgliedern seiner Familie zum »Kommandanten« gegen die feindlichen Kommunisten ernannt. Er schoss auf einen russischen Panzer, tötete acht russische Soldaten und nahm einen weiteren achtzehnjährigen Ukrainer gefangen, den er später auch tötete. Bei einem Vergeltungsschlag sechs Monate später fielen weitere hundertdreißig Mitglieder seines Dorfes russischen Panzern zum Opfer, und er selbst wurde von einem Panzergeschoss getroffen, das ihn Nase, Gaumen und Oberkiefer kostete – sprich das halbe Gesicht. Seine Kameraden brachten den Halbtoten, der viel Blut verlor, im Jeep ins sechs Stunden entfernte Feldlazarett, wo er einen Luftröhrenschnitt

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