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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Kliniken und einen Aufenthalt in deutschen Gastfamilien infrage kamen.
    Schon vor dem Gebäude scharten sich die Hilfesuchenden. Meist waren es Männer mit Söhnen. Frauen und Mädchen waren selbstverständlich nur in männlicher Begleitung erlaubt und mussten ganz hinten in der Schlange warten. Sie alle harrten schon seit Tagen hier aus.
    Im Untersuchungsraum erregte vor allem ein völlig abgemagertes Bündel Mensch mein Interesse, das entkräftet in der Ecke lag. Obwohl die Gestalt vollkommen verschleiert war, sah ich am grünen Turban, dass es sich dabei um keine Frau handeln konnte. Aus schmalen Sehschlitzen starrte sie mich unverwandt an. Wie fanatisch ist der denn drauf?, schoss es mir durch den Kopf. Sogar als Mann komplett verschleiert?
    Ein ungutes Gefühl beschlich mich, dem ich allerdings nicht näher auf den Grund gehen konnte, da mich die kleinen Kinder viel zu sehr in Anspruch nahmen, die mir die Väter fordernd entgegenstreckten. Bei dem, was ich da zu sehen bekam, musste ich mich wieder schwer beherrschen, nicht zusammenzuklappen. Los, Sybille, schau hin! Diesen Kindern wirst du helfen. Dieses Leid wirst du lindern. Mir zog sich der Magen zusammen. Oft drehte ich den Kopf weg, weil mir das Frühstück hochkam. (Welches Frühstück?) Dann sah ich »das Wesen« mit dem grünen Turban, das mich unverwandt anstarrte, und schaute schnell wieder woanders hin.
    Die beiden Ärzte gingen sehr liebevoll mit den Kindern um. Aber nur die wirklich schlimmen Fälle würden eine Chance bekommen, mit uns nach Deutschland zu reisen. Die anderen mussten wieder fortgeschickt werden, so grausam das auch war. Ich rieb mir fröstelnd die Arme, obwohl die Luft zum Schneiden war. Der altersschwache Ventilator, der sich an der grün gestrichenen Decke drehte, konnte bei vierzig Grad im Schatten kaum Kühlung bringen. Viel helfen konnte ich nicht, nur abwarten. Aber warum starrte mich dieses Wesen immer noch so bohrend durch seine Sehschlitze an? Ja, Loch Ness, finde dich damit ab! Ich bin eine Frau in Männerkleidung. Und ich fahre nicht zur Hölle, wie du siehst. Irgendwann schlurfte es kurz davon, und als es wiederkam und sich mit letzter Kraft die Stufen raufschleppte, ja als ich sein völlig abgeflachtes Profil sah, durchzuckte mich das nackte Grauen. Wo war denn da die Nase? Wo das Kinn und wo der Mund?
    Als letzter Patient kam der Turbanträger nach stundenlanger Wartezeit endlich an die Reihe. Beide Ärzte beugten sich über ihn, und er nahm mit schmutzigen Fingern den Schleier ab.
    O Gott. Mich packte ein eiskalter Schauer. Das Wesen hatte kein Gesicht mehr! Da waren nichts als ein struppiger schwarzer Bart und – zwei feuchte Löcher! Ich unterdrückte einen akuten Würgereiz. Und ich hatte diesen bedauernswerten Menschen insgeheim »Loch Ness« genannt! So etwas hatte ich noch nie gesehen, nicht in den schlimmsten Fernsehberichten, nicht in Zeitschriften, ja nicht einmal in Horrorfilmen. Dass dieses gesichtslose Wesen überhaupt noch lebte! Wie nahm es denn Nahrung auf, wie konnte es trinken? Wo war da eine Zunge, wo ein Gaumen? (Von Zähnen will ich jetzt gar nicht reden.) Als es von einem Übersetzer befragt wurde, wie es zu diesen schrecklichen Verletzungen gekommen war, gab es nur gurgelnde Laute von sich. Anscheinend hatte ihm ein Panzergeschoss das Gesicht weggerissen.
    Selbst die Ärzte waren so geschockt, dass sie auf ihren Hockern zusammensanken, und mir versagten schlichtweg die Beine. Ich hatte mir so fest vorgenommen, nicht schlappzumachen, aber das hier war mehr, als ich auch nur ansehen konnte. Geschweige denn anfassen, so wie die Ärzte! Während die beiden Mediziner noch diskutierten, ob es überhaupt einen Zweck habe, diesen Menschen mitzunehmen, versuchte ich meinen Ekel in den Griff zu bekommen. Sybille, reiß dich zusammen. Kack jetzt hier nicht ab. Du hast diesen Weg eingeschlagen, und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Du könntest jetzt auch in einer blitzblanken Schönheitsklinik sitzen, aber du hast es nicht anders gewollt. Ich sah Mickis aufmunterndes Gesicht vor mir, spürte förmlich, wie er mir die Hand auf die Schulter legte und mit seiner tiefen Stimme sagte: »Sybille, es ist ein steiniger Weg, den du gewählt hast, aber ich stehe hinter dir.«
    Ich weiß gar nicht mehr, wie wir alle zum Fototermin für den Stern in den Garten des Gebäudes gelangt sind. Aber die Entscheidung war gefallen: Zweiundzwanzig kleine Kinder und dieser – Quasimodo durften am nächsten Tag mit nach

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