Drachenklänge
die Kanne zu Lorra gebracht?«
»Ja, Mutter.«
»Dann ab mit dir, Junge, verzieh dich«, befahl sein Vater und schob ihn sachte in Richtung der Tür, die ins Nebenzimmer führte. »Ich muss mich doch sehr wundern, Merelan, dass du mit den Tempi nicht zurecht-kommst.«
»Weil dein Gekritzel nahezu unleserlich ist, Petiron«, mischte sich Washell mit seiner grollenden Bass-stimme ein. »Sieh dir das mal an.« Sein derber Zeige-57
finger tippte auf die kritische Stelle. »Den Punkt nach der halben Note kann man kaum erkennen. Wie soll Merelan korrekt singen, wenn du derart schludrig schreibst. Auf meiner Kopie ist er deutlich zu sehen, aber nicht auf dieser.«
Petiron blinzelte auf das beanstandete Notenblatt.
»Er ist wirklich ein bisschen schwach ausgefallen. Sing mir die Stelle bitte vor.« Er schlug den Auftakt.
Washell fiel mit seinem tiefen Bass ein, während Merelan fehlerfrei die schwierigsten Passagen sang.
»Du hast mir sehr geholfen, Washell, hab vielen
Dank«, beschied sie ihn. »Und nochmals vielen Dank für die Kekse und das Klah.« '
»Es war mir ein Vergnügen, Meistersängerin.« Washell verbeugte sich und lächelte das Paar gütig an, ehe er sich umdrehte und das Zimmer verließ.
»Was ist nur los mit dir, Merelan, hast du wieder Kopfschmerzen?« erkundigte sich Petiron, das Notenblatt noch einmal in Augenschein nehmend.
»Nein, Liebling, aber den Punkt kann man leicht
übersehen, und an dieser Stelle hatte ich keine Pause erwartet. Wie sind die Proben ausgefallen? Von hier aus hörte es sich recht gut an.«
Er warf sich auf einen Polstersessel und legte die Füße auf einen Schemel. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Die üblichen Probleme. Sie scheinen zu glauben, es genügt ein flüchtiger Blick auf die Noten, wenn sie mich die Treppe heraufkommen hören. Aber zum Schluss klappte es so einigermaßen. Ich finde es nett von Washell, dass er dir geholfen hat.«
»Ja, er ist wirklich ein ganz reizender Mensch.«
»Washell?« Petiron blickte skeptisch drein. »Weißt, du, was die Lehrlinge über ihn sagen …«
»Ich weiß es, und ich möchte nicht, dass du es vor mir aussprichst«, kanzelte sie ihn ungewohnt schroff ab. Petiron furchte die Stirn. »Möchtest du ein Glas 58
Wein trinken?« fragte sie, an den Schrank tretend. »Du siehst müde aus.«
»Ich bin erschöpft. Danke, meine Liebe.«
Sie schenkte zwei Gläser ein. Auch sie brauchte jetzt einen kräftigen Schluck.
»Ich leiste dir Gesellschaft.« Sie reichte ihm ein Glas, setzte sich auf die Armstütze des Sessels und legte ihren Kopf an Petirons Schulter. Trotz seiner Fehler liebte sie ihn, nicht zuletzt wegen seiner bedingungs-losen Hingabe an die Musik. Sie hatten eine ideale Ehe geführt – bis Robie geboren wurde.
*
Es gab einen Aspekt, den weder Washell noch Robies Mutter berücksichtigt hatten: Die Begeisterung des Kindes für die Musik. Sie hatten nicht damit gerechnet, wie schnell er im Verlauf der nächsten Monate Grundkenntnisse förmlich aufsog und mehrere Instrumente zu spielen lernte.
Kaum hatte Meister Ogolly ihm die Notenschrift
und die Notenwerte beigebracht, da fing der Junge auch schon an, seine eigenen Variationen über verschiedene Melodien aufzuschreiben.
Merelan hatte alle Hände voll zu tun, Robies Enthusiasmus daheim in ihrem Wohnquartier zu unterdrü-
cken, nicht zuletzt, weil das Kind darauf brannte, seinem Vater das Gelernte vorzuführen, um dessen Anerkennung zu erringen.
»Aber Vater liebt Musik. Er schreibt doch selbst Lieder«, meuterte Robie.
»Das ist es ja gerade, mein Schatz.« Merelan verabscheute die Heuchelei, zu der sie immer häufiger Zuflucht nehmen musste. »Er hört den ganzen Tag lang Musik und muss sich zudem mit dummen Studenten
abplagen …«
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»Bin ich dumm, Momma?«
»Nein, Liebling, du bist überhaupt nicht dumm,
aber dein Vater muss sich von all der Musik erholen, wenn er hier bei uns ist …«
»Ja, sicher …«, gab Robie enttäuscht nach.
»Die Große Frühlingsversammlung ist ungeheuer
wichtig, und du weißt ja, wie schwer dein Vater an der neuen Partitur arbeitet …«
»Ja, ich weiß«, seufzte Robie.
»Riechst du auch den Duft von frisch gebackenen
Plätzchen?« fragte Merelan, dankbar für die Ablenkung.
Robie schnupperte und ein Lächeln erhellte sein be-trübtes Gesicht. »Ob ich vielleicht …« begann er hoffnungsvoll.
»Lauf einfach in die Küche und frag Lorra«, schlug Merelan vor und bugsierte ihn zur Tür. »Und wenn sie dir
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