Drachenklänge
die Ballade über die Pflichten. Petiron blickte verdutzt drein, als der Junge seine kräftige Sopranstimme erklingen ließ, ohne einen einzigen falschen Ton zu singen. Gedan-kenverloren schlug er mit einem Finger den Takt mit, und während er lauschte, glättete sich seine finstere Miene.
»Das hast du gut gemacht, Robinton«, gab er schließ-
lich von sich. »Aber glaube bitte nicht, dass es mit dem Erlernen eines einzigen Liedes getan ist. Es gibt viele Balladen, auch für Kinder, die man sich solange ein-pauken muss, bis der Text und die Noten sitzen. Mach weiter so.«
Überglücklich wandte sich Robinton an seine Mutter, um zu sehen, ob sie ebenfalls dieser Meinung war.
Vor Erleichterung hätte Merelan am liebsten ge—
schluchzt. Sie stand auf, ging zu Robie und zerstrubbelte liebevoll sein Haar. »Du hast dich selbst übertroffen. Ich bin auch stolz auf dich, genau wie dein Vater.« Um Bestätigung heischend, blickte sie Petiron eindringlich an, doch der widmete sich bereits wieder den zu korrigierenden Hausaufgaben seiner Studenten und schien Frau und Kind vergessen zu
haben.
Merelan ballte die Fäuste und rang um Fassung. Sie 63
musste an sich halten, um Petiron ihre Wut über seine kühle, gleichgültige Reaktion nicht ins Gesicht zu schreien. Es gab so viel, was er hätte sagen können! Er hätte Robie loben müssen, weil er die Atemtechnik und Stimmkontrolle perfekt beherrschte. Doch sie unterdrückte ihren Groll und nahm Robie, der nicht begreifen konnte, wieso seinem Vater der Vortrag offenbar nicht gut genug war, an die Hand.
»Wir werden doch mal sehen, welche Belohnung
Lorra für dich hat, weil du die Ballade in Text und Gesang vorbildlich beherrschst!«
Als sie die Tür mit einem vernehmlichen Knall hinter sich und Robie zuschlug, blickte Petiron flüchtig über die Schulter und fuhr ungerührt fort, eine sehr mangelhafte Arbeit zu bewerten.
*
»Also wirklich, am liebsten hätte ich ihn …« Merelan ballte immer noch die Fäuste, als sie aufgebracht in dem kleinen Zimmer neben der Küche hin und her
stapfte, das Lorra als Wohnstube und Büro diente. »Ich hätte mit dem Fuß nach ihm treten können!«
»Na so etwas!« Lorra reagierte auf den vehemen—
ten Ausbruch ihrer Freundin mit Betroffenheit. Als Merelan in die Küche gestürmt kam, hatte ein Blick auf ihr Gesicht genügt, um zu wissen, dass etwas Schwerwiegendes vorgefallen war. Prompt hatte Lorra den beiden Küchenmädchen bedeutet, Robie
mit süßen Pasteten zu füttern, derweil sie die Meistersängerin in ihr Büro führte. Betrice war zu einer Entbindung außerhalb der Harfnerhalle unterwegs, und Lorra fasste es als Vertrauensbeweis und Kompliment auf, dass Merelan sich mit ihrem Problem an sie wandte.
»Ich habe Lehrlinge im dritten Ausbildungsjahr ge-64
hört, die die Ballade über die Pflichten nicht so gut interpretieren konnten wie Robie«, ereiferte sich die Sängerin. »Keine falsche Note, kein verkehrter Atemzug.
Der Vortrag war tadellos.«
»Aber das sagte Petiron doch, oder?« flocht Lorra in dem Versuch ein, Merelan zu besänftigen.
»Ja, aber er hätte noch viel mehr sagen können.
Robie sang ausgezeichnet, besser als ein Knabe von vierzehn, dabei ist er nicht einmal vier Planetenumläufe alt. Und Petiron tat so, als hätte er von seinem Sohn nichts anderes erwartet.«
»Aha!« Lorra zeigte mit einem Finger auf ihre
empörte Besucherin. »Du sagst es. Von seinem Kind erwartet er Perfektion. Wenn Robies Vortrag nicht einwandfrei gewesen wäre, hättet ihr eine Litanei zu hören bekommen. Hab ich Recht?«
Merelan blieb stehen und schaute die Wirtschafterin und Gesindeaufseherin an. Sie gab ein kurzes Lachen von sich und setzte sich auf einen Stuhl. Allmählich schien ihr Zorn zu verrauchen.
»Natürlich hast du Recht. Wenn Robie nicht perfekt gewesen wäre, hätte er die Ballade über die Pflichten so lange wiederholen müssen, bis ihm kein einziger Schnitzer mehr unterlaufen wäre. Beim Ersten Ei, was soll ich nur tun? Der Junge will und braucht die Anerkennung seines Vaters. Aber die wird er niemals bekommen!«
»Kein Wunder! Schließlich geizt Petiron mit Lob wie kein zweiter Harfner in dieser Halle«, beschied ihr Lorra. »Einen Vorteil hat das Ganze – von jetzt an brauchst du nicht mehr voller Angst dem Moment
entgegenzubangen, wenn Petiron erfährt, dass sein Sohn ihm musikalisch bei Weitem überlegen ist.«
Merelan warf Lorra einen verdutzten Blick zu.
»Komm schon, Merelan«, fuhr Lorra
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