Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
sich allein mit dem Multispill durchführen.
Wenn die große Wäsche von der Leine ist, wie die Sonnensegler das Reffen der Hauptsegel nennen, ist es kein Problem mehr, den Rest ferngesteuert zu erledigen. Styx hat sich damit schon intensiv beschäftigt, weil er eine Weile an einem Programm für den vollautomatischen Betrieb knobelte. Er hat auch ein Programm gefunden – aber es war langsamer als der manuelle Betrieb… Hin und wieder ist der Mensch doch unersetzbar. “Alles Zeug in der Segelplicht”, murmelt Skamander. “Hart an den Wind!” Der Kosmander setzt sich in seinen Sessel und schnallt sich an. Daß er dabei eine unscheinbare Taste drückt, ist schon so zur Gewohnheit geworden, daß er es wahrscheinlich unbewußt tut. Styx aber registriert diesen scheinbar unbedeutenden Handgriff sehr aufmerksam, denn jetzt leuchtet auf allen Decks und in allen Kabinen ein Signal auf, das jedem, der noch nicht den Gurt angelegt hat, dringend empfiehlt, das in den nächsten zwanzig Sekunden nachzuholen.
Ein gewisser Superproximer Irmold Styx hat dieses Signal ein einziges Mal in seinem Leben übersehen. Daß er sich kurz danach lediglich den linken Unterarm und nicht den Schädel gebrochen hat, kann er als Glücksfall bezeichnen.
Plötzlich ist hinten unten. Anders kann Styx diese Empfindung nicht erklären. Zwar weiß er, welcher physikalische Vorgang hier für dieses Gefühl sorgt – die Ikaros stürzt mit zunehmender Geschwindigkeit und im spitzen Winkel auf die Sonne zu –, aber seine Sinne können mit dieser rationalen Erklärung nicht allzuviel anfangen.
Dann ist auf einmal vorn hinten und unten ganz besonders unten. Jetzt sind sie im Jetstream! Die Turbulenz reißt den Drachenkreuzer aus seiner ursprünglichen Flugrichtung gewaltsam nach oben.
Flakke zählt laut die Flughöhe mit. Es geht irrsinnig schnell. “Kielkreisel null! Turbos zweiundsiebzig Grad!” Jetzt sind seine Befehle kurz und knapp.
Styx brüllt dazwischen: “Achtundsiebzig, Konder! Wir kommen in die Wand der Konvektionszelle!”
“Achtundsiebzig!” bellt Flakke.
Wieder ein kurzes Rütteln, aber diesmal ist es nicht Folge der Korrektur, sondern ein Ergebnis des Segelmanövers.
Die Ikaros jagt mit angebraßten Turbosegeln durch die Eruption, jetzt klappen die stromlinienförmigen Röhren nach unten und reißen das Schiff in den Sog der wieder abwärts strömenden Materie.
Nun hängt alles von Styx ab. Der Drachenkreuzer wird immer schneller, die Turbosegel verlieren ihre Wirksamkeit und werden zu Steuerrudern – aber je mehr sich die Geschwindigkeit der Ikaros erhöht, desto stabiler wird ihr Kurs! Styx teilt sich gleichsam: Der eine rechnet unentwegt, der andere sieht weit vor dem Bug des Schiffes Wirbel rotieren und Strömungen emporschießen. Und dieser Irmold Styx blickt auch ein wenig in die Zukunft, erkennt die sich unmerklich aufschaukelnden Schwingungen, die den Glutball der Sonne vibrieren lassen, gewaltige Beben auslösen, die wie eine Springflut das Zentralgestirn umlaufen, riesige, kraterähnliche Strudel hervorrufen, aus denen dann Protuberanzen schießen, die von der Erde aus ohne weiteres mit bloßem Auge zu erkennen sind. Und er sieht ein System in diesen scheinbar chaotischen, unberechenbaren Vorgängen, aber er sieht es, ohne es in eine mathematische Formel kleiden zu können, etwa so, wie man die Regelmäßigkeit im Wuchs einer Tanne erkennt, aber nicht vorhersagen kann, wie oft sich ein Ast verzweigt.
Mit Skagits Berechnungen kommt er nicht klar. Die befassen sich aber auch weniger mit dem Resultat der Oszillationen als mit deren Ursachen. Und wenn Skagit recht behalten sollte – und die von ihm errechnete Periode gleicht erstaunlich der bisherigen Entwicklung –, dann liegt die Quelle dieser Gravitationsoszillationen nicht nur außerhalb der Sonne, sondern sogar weit außerhalb des Sonnensystems.
Skagit hat eine kühne Hypothese aufgestellt, die von den Astrophysikern allerdings verworfen wurde. Skagit will herausgefunden haben, daß die Gammaquelle 2 CG 195 + 4 im Sternbild Zwillinge der Verursacher ist, zumal schon vor einigen hundert Jahren Schwingungen der Sonne – allerdings kaum meßbare – mit Geminga, wie dieses Objekt dort genannt wurde, in Verbindung gebracht wurden. Geminga sendet auch eine intensive Röntgenstrahlung aus, was zu der Vermutung Anlaß gibt, daß es sich um zwei sehr kompakte Neutronensterne handelt, die einander umkreisen und dabei auch Gravitationswellen erzeugen. Allerdings ist
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