Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
Geminga sechshundert Lichtjahre von der Erde entfernt, und welcher Mechanismus sollte für diese extremen Schwankungen in der Intensität der Gravitationswellen und für die ausgeprägte Periodizität dieser Schwankungen sorgen?
Skagits Hypothese ist zwar sehr konstruiert, würde aber alles erklären. Schnuckchen hat sie einmal ironisch mit denjenigen geozentrischen Weltbildern der Vorzeit verglichen, in denen die Bewegungen der Gestirne durch epizyklische Konstruktionen erklärt wurden, deren Kompliziertheit gegenüber der elliptischen Realität zwar die Faszination eines filigranen Kupferstichs aufweise, jedoch schlicht und einfach Humbug sei. Skagit war tief beleidigt und verwies zu Recht darauf, daß sein Modell zwar ebenfalls kompliziert, aber, gemessen am aktuellen Erkenntnisstand, keineswegs unmöglich sei und auf den gültigen Naturgesetzen basiere, unter Berücksichtigung ganz aktueller Resultate.
Er setzt voraus, daß Geminga kein doppeltes, sondern eigentlich ein vierfaches System ist, ähnlich wie Mizar und Alkor, Deichselstern und Augenprüfer oder auch Reiterlein im Großen Wagen, ein kompliziertes Mehrfachsystem aus insgesamt sogar sieben Sternen bilden.
Nach Skagits Theorie sollen also zwei Doppelsysteme einander umkreisen, und immer wenn sie zur Sonne in Konjunktion, also in einer Linie mit ihr, stehen, vervielfacht sich unter bestimmten Bedingungen die Intensität ihrer Schwerewellen. Durch die Präzessionsbewegungen der Rotationsachse dieses Gebildes und die nur alle paar Millionen Jahre eintretende Phasengleichheit der Oszillationen beider Komponenten, durch Interferenzerscheinungen und noch andere physikalische Vorgänge entstehen so Schübe von jeweils drei bis vier Bebenperioden, die immer fünfunddreißig Jahre auseinanderliegen und je zwei Minima und ein Maximum aufweisen.
Skagit behauptet nun, daß ein Maximum bevorsteht und daß nach einem relativ harmlosen Minimum in weiteren fünfunddreißig Jahren wieder für etliche Millionen Jahre Ruhe herrscht. Styx hält mehr von der Hypothese, die einen im Sonnenplasma wandernden festen Kern – oder gar mehrere – mit etwa der Masse des Jupiters voraussetzt. Diese Annahme folgt der Prämisse, die Ursache im Zentrum der Wirkungssphäre zu suchen.
Aber als Skagits Aufrechnung verblüffend genau ein Maximum innerhalb des Zeitraums ergab, in dem die großen Saurier ausstarben, da wurde auch Styx nachdenklich. Und selbst Schnuckchen triumphierte nicht länger, als er nach Skagits Algorhythmus nachwies, daß es während der Eiszeiten keinerlei Minima oder Maxima gab. Skagit hatte wochenlang gerechnet, bis er vier Sterndurchgänge nachweisen konnte, von denen zwei durch das Gravitationsfeld die Schwerewellen von Geminga fokussierten, wie ein Brennglas das Licht. Da schwieg auch der Elloraner und spitzte die Lippen zu einem anerkennenden Pfiff. Aber noch immer lehnt die Fachwelt die Skagit-Hypdthese als willkürliche Konstruktion ab. Und Styx hat keinen Grund, den Fachleuten, die sich lobend über seine Raumschiffprojekte äußerten, zu mißtrauen.
Die Ikaros jagt durch den Jetstream wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil. Aber während ein Pfeil immer langsamer wird und. irgendwo zu Boden fällt, sollte er sein Ziel verfehlen, steigt die Geschwindigkeit des Drachenkreuzers ständig. Scheinbar stürzt er auf die Sonne zu; tatsächlich umrundet er sie nur in einer engen Schleife und wird dann durch die Schleuderwirkung dieser ausgeklügelten Bahn weit in das All hinauskatapultiert, wo irgendwo weit vor seinem Bug der Merkur als ein kaum wahrnehmbares Stäubchen flimmert…
Nach achtzehn Stunden lehnt sich Kosmander Flakke mit einem zufriedenen Grunzen zurück und befiehlt: “Den Omegalappen raus, Jungs!” Wieder schießen die Wantentrailer aus den Startschächten, aber Styx sieht das nicht mehr. Flakke hat ihn mit einer kurzen Handbewegung aufgefordert, die Brücke zu verlassen, und mit einer zweiten – er legte den Kopf schief und bettete ihn in die Handfläche –, sich erst mal gründlich auszuschlafen. Den Rest macht die Ikaros allein. Ist das Omegasegel erst gesetzt, schwebt der Drachenkreuzer wie ein Heißluftballon dem Merkur entgegen, nur noch vom Strahlungsdruck des Sonnenwindes und vom Impuls des Swing-by-Manövers weitergetrieben.
Jetzt haben sie einige Tage Ruhe, und Styx kann an seinem Projekt – dem Jupiterschiff – weiterarbeiten. Auch Skagit wird sich in seiner Kabine einschließen und seine Berechnungen weiterführen, mit
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