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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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seinen schräg gestellten Augen, oder sie füllten sich vor Kummer mit Tränen. Es heißt, die Augen seien die Fenster der Seele. Auf niemanden traf das so zu wie auf Ali, der sich nur durch seine Augen zu offenbaren vermochte.
    Man sagte, dass Sanaubars aufreizender Gang und ihre schwingenden Hüften die Männer zum Träumen brachten. Dagegen hatte Ali seit einer Polioinfektion ein verwachsenes, verkümmertes rechtes Bein, das aus bleicher Haut und Knochen bestand und dazwischen nicht viel mehr als eine hauchdünne Muskelschicht aufwies. Ich weiß noch, wie ich einmal - ich muss wohl acht Jahre alt gewesen sein - mit Ali zum Basar ging, um naan-Brot zu kaufen. Ich marschierte summend hinter ihm her und versuchte seinen Gang nachzuahmen. Ich beobachtete, wie er sein dürres Bein in einem weiten Bogen schwang, beobachtete, wie sein ganzer Körper jedes Mal, wenn er den dazugehörigen Fuß aufsetzte, unmöglich weit nach rechts wegkippte. Es erschien mir wie ein kleines Wunder, dass er nicht bei jedem Schritt umfiel. Als ich es versuchte, wäre ich beinahe in den Rinnstein gefallen. Das brachte mich zum Kichern. Ali drehte sich um und erwischte mich dabei, wie ich ihn nachäffte. Er sagte kein Wort. Damals nicht und auch später niemals. Er ging einfach weiter.
    Alis Gesicht und sein Gang jagten einigen der jüngeren Kinder im Viertel Angst ein. Aber den wirklichen Ärger bereiteten ihm die älteren Kinder. Sie jagten ihn auf der Straße, verspotteten ihn, wenn er vorbeihinkte. Einige waren auf die Idee verfallen, ihn Babalu, Schwarzer Mann, zu nennen. »Hallo Babalu, wen hast du denn heute gefressen?«, riefen sie unter schallendem Gelächter, »Wen hast du heute gefressen, du flachnasiger Babalu?«
    Sie nannten ihn »flachnasig« wegen Alis und Hassans mongolider Züge, die den Hazara eigen sind. Viele Jahre lang war dies das Einzige, was ich über die Hazara wusste: dass sie mongolischer Abstammung sind und ein wenig wie Chinesen aussehen. In den Schulbüchern wurden sie nur beiläufig erwähnt, und über ihre Herkunft erfuhr man kaum etwas. Doch eines Tages, als ich in Babas Arbeitszimmer in seinen Büchern kramte, entdeckte ich ein altes Geschichtsbuch meiner Mutter. Es war von einem Iraner namens Khorami verfasst worden. Ich blies den Staub herunter, schmuggelte es am selben Abend mit ins Bett und stellte erstaunt fest, dass es darin ein ganzes Kapitel über die Geschichte der Hazara gab. Ein ganzes Kapitel, das Hassans Volk gewidmet war! Darin las ich, dass mein eigenes Volk, die Paschtunen, die Hazara verfolgt und unterdrückt hatte. Es hieß darin, dass die Hazara durch die Jahrhunderte immer wieder versucht hatten, sich zu befreien, doch die Paschtunen hatten all diese Versuche »mit unbeschreiblicher Gewalt niedergeschlagen«. In dem Buch hieß es, dass mein Volk die Hazara gefoltert, ihre Häuser angesteckt und ihre Frauen verkauft hatte. In dem Buch hieß es, dass die Paschtunen die Hazara auch deswegen niedergemetzelt hatten, weil die Paschtunen Sunniten und die Hazara Schiiten sind. In dem Buch stand vieles, was ich nicht wusste, Dinge, die meine Lehrer nie erwähnt hatten. Dinge, über die auch Baba niemals gesprochen hatte. Es standen auch einige Dinge darin, die ich wusste, so zum Beispiel, dass die Leute die Hazara als Mäuse fressende, fl achnasige Esel bezeichneten, die nur zum Arbeiten taugten. Ich hatte schon gehört, wie manche Kinder im Viertel Hassan auf diese Weise beschimpften.
    In der folgenden Woche zeigte ich das Buch nach dem Unterricht meinem Lehrer und deutete auf das Kapitel über die Hazara. Er überflog einige Seiten, kicherte und reichte es mir zurück. »Eins können die Schiiten wirklich gut«, sagte er und griff nach seinen Unterlagen, »sich selbst als Märtyrer hinstellen.« Er rümpfte die Nase, als er das Wort Schiiten aussprach, ganz so, als handelte es sich dabei um eine Krankheit.
    Doch trotz ihres gemeinsamen ethnischen Erbes und obwohl das gleiche Blut in ihren Adern floss, tat es Sanaubar den Kindern des Viertels nach und verspottete Ali. Es hieß, sie habe kein Geheimnis aus ihrer Verachtung für sein Aussehen gemacht.
    »Soll das etwa ein Ehemann sein?«, lauteten ihre höhnischen Worte. »Ich habe schon alte Esel gesehen, die besser als Ehemänner getaugt hätten.«
    Am Ende vermuteten die meisten Leute, dass die Ehe eine Vereinbarung oder etwas Ähnliches zwischen Ali und seinem Onkel, Sanaubars Vater, gewesen war. Sie behaupteten, Ali habe seine Cousine

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