Drachenland: Roman (German Edition)
Feuer an und legte eine Wärmflasche für Jondalrun in die Nähe des Feuers. Während es im Haus warm wurde, trugen sie Johan zu seinem Bett, das sie weit entfernt vom Kamin aufgestellt hatten, und versuchten, ihn möglichst so hinzulegen, dass es aussah, als ob er sich nur ausruhe. Das kostete Mut und Nerven, denn der gewaltsame Tod hatte ihn so entstellt, dass er kaum noch zu erkennen war.
Im Schlafzimmer wechselten sie die Steppdecke aus und brachten es fertig, den schweren Jondalrun aufs Bett zu schaffen. Erschöpft machten sie sich dann daran, die nötigen Arbeiten außerhalb des Hauses zu verrichten, und setzten sich anschließend vor den Kamin, wo sie Seite an Seite zusahen, wie die Scheite zu Asche verbrannten. Sie sprachen nur wenig in dieser Nacht, und wenn sie es taten, ging es nur um die Kühle der Nacht oder ähnliche Dinge. Sie erwähnten weder Jondalrun noch Johan, und auch über die Zukunft sprachen sie nicht.
Südwestlich von Tamberly lag das Hügelland der Warkanen, eine einsame Gegend, wo auf dunklem Sandboden zottiges Gras und hier und da Disteln wuchsen. Die vereinzelt gelegenen Hügel mit ihren abgerundeten Kuppen waren gerade hoch genug, um der Fantasie entsprungenen Ungeheuern ein Versteck zu bieten. Weit verstreut standen vom Wind gebogene Bäume, die die Kargheit der Landschaft nur unterstrichen. Manchmal saßen Lerchen und Kiebitze auf ihnen und sangen mit dem Wind von Einsamkeit.
Im Augenblick jedoch sangen keine Vögel auf den Bäumen, denn es war Nacht. Der fast volle Mond berührte den westlichen Horizont, und der Wind wehte in kühlen Böen über das Land und wirbelte Sand und Blätter auf. Zwei Wagenspuren, Warkanenstraße genannt, führten durch die Landschaft und wanden sich um die kleinen Erhebungen und Baumgruppen. Diese Straße entlang kam ein einsamer Wanderer – ein junges Mädchen in einem dunkelgrünen Mantel. Sie schritt rasch aus und warf dann und wann besorgte Blicke hinter sich auf den untergehenden Mond.
Hoch oben bewegte sich ein stummer Schatten vor den Sternen.
Das Mädchen war jung, kaum älter als dreizehn oder vierzehn. Sie hieß Analinna und war eine Schäferin. Sie war auf dem Weg zu einem Stelldichein mit einem Jungen aus Kap Bage, der bei einem Schmied in der Lehre war und Toben hieß. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie für ihren Vater Wolle in die Stadt brachte. Seine braunen Augen und seine einnehmende Art zu sprechen hatten sie bezaubert, und sie wollten sich nun an der Kreuzung treffen und von dort zu einer in der Nähe gelegenen verlassenen Viehtreiberhütte gehen. Sie sah sich wieder ängstlich um; der Mond war fast untergegangen, und sie war spät dran.
Der unbemerkte Schatten über ihr wurde größer, eine schwarze Wolke, die sich furchterregend zielbewusst voranbewegte.
Die Straße wand sich um den letzten der Hügel, und Analinna sah die Kreuzung vor sich. Von Toben war weit und breit nichts zu sehen. Sie blieb verwirrt stehen und ging dann langsam auf den Wegweiser zu. Er stand schräg inmitten von Felsbrocken, die ihn halten sollten. Die beiden rissigen grauen Schilder, die die Richtungen angaben, sahen aus wie die Finger eines Skeletts. Das linke zeigte nach Kap Bage, wo Toben in seiner Kammer hinter der Schmiede tief und fest schlief, erschöpft nach einem harten Tagewerk – doch Analinna konnte dies nicht wissen. Das andere Schild zeigte zu den »Treppen des Sommers«, der Stätte der Ratsversammlung der Ältesten aller Städte. Doch inzwischen war es so dunkel, dass Analinna die Schilder nicht entziffern konnte.
Während sie zögernd dastand, schien direkt von oben ein plötzlicher Windstoß zu kommen. Staubwolken stiegen auf. Analinna unterdrückte ein Niesen und blickte nach oben. Sie sah nichts, hörte aber ein schwaches Geräusch, ähnlich wie der Blasebalg, den Toben benutzt hatte, um das Feuer in der Schmiede anzufachen, nur viel tiefer und langsamer.
Sie drehte sich ein-, zweimal um und blickte über Himmel und Land. Der Mond war jetzt untergegangen, und hohe Wolken verhüllten die Sterne. Es wurde allmählich sehr dunkel, zu dunkel sogar, um die Straße zu erkennen. Eine plötzliche Angst von solcher Gewalt überkam Analinna, dass sie unfähig war, einen Schritt zu tun: Sie stand mitten auf der Kreuzung, hielt den Atem an, lauschte, wartete.
Da war das Blasebalggeräusch wieder, viel lauter diesmal – und ein gewaltiger Windstoß streckte sie zu Boden. Der Wegweiser schwankte. Staub und Sand drangen ihr in die Augen.
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