Drachenland: Roman (German Edition)
der Straße beobachteten ihn mit stummem Entsetzen. Jondalrun blieb im gelben Lichtkreis einer Laterne stehen und rief: »Gerechtigkeit für meinen Sohn! Mein Sohn ist ermordet worden!«
Sein Ruf durchdrang die ganze Stadt und erfüllte sie mit quälenden Echos. Fenster wurden hochgeschoben, Fensterläden geöffnet. Jondalrun ging die Straße entlang und wiederholte seinen Ruf alle paar Schritte. Hinter ihm, vor ihm, überall an der Straße entstand ein Murmeln, zuerst fragend, dann teilnahmsvoll. Ein junger Mann sprang von einem Fenster auf ein steiles Dach, von dort auf die Straße und schloss sich dem alten Bauern mit dem Ruf »Ja, Gerechtigkeit!« an. Bald kamen noch mehr hinzu, und aus dem Aufschrei eines einzigen Mannes entstand der fordernde Chor einer ganzen Prozession auf dem Weg zum Haus des ranghöchsten Ältesten.
Jondalrun beachtete sie alle nicht. Er ging seinen Weg weiter, mit steifen, schlafwandlerischen Schritten, und blieb nur stehen, um seiner Klage Ausdruck zu geben. Die Leute aus der Stadt traten zurück, um ihm und seinen Begleitern Platz zu machen. Vor dem Haus Pennels, des ranghöchsten Ältesten, blieb Jondalrun stehen. Die Menge, die ihm gefolgt war, stand abwartend hinter ihm – alle schienen den Atem anzuhalten.
»Pennel!«, schrie Jondalrun. »Gerechtigkeit für meinen Sohn! Mein Sohn ist ermordet worden!«
Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Dann öffnete sich der Laden eines Küchenfensters einen Spaltbreit, und eine Frau mit einem grauen Haarknoten blickte heraus. Ihre Augen weiteten sich, dann verschwand sie wieder und zog den Laden leise hinter sich zu. Wieder Stille. Dann waren im Haus Schritte zu hören. Die Tür wurde aufgestoßen, und Pennel trat auf die Vortreppe hinaus.
Der ranghöchste Älteste war ein magerer, kleiner Mann mit großen, kurzsichtigen Augen. Er hatte vor dem Abendessen ein Schläfchen gehalten, darum waren seine Kleider zerdrückt und seine Haare zerzaust. Er trat gähnend vor, strich sich das Haar aus den Augen – und stand plötzlich dem Vater und seinem toten Sohn gegenüber, die er beide seit Jahren kannte.
Die Menge wartete.
Jondalrun sagte nur: »Hol Agron. Wir müssen miteinander sprechen.« Dann wandte er sich einem Pferdefuhrwerk in der Nähe zu, bettete sanft die Leiche seines Sohns auf das Stroh, kletterte auf den Kutschbock und nahm die Zügel. Der Besitzer des Fuhrwerks, der in der Menge stand, wollte protestieren, aber Pennel bedeutete ihm zu schweigen. Jondalrun gab das Zeichen mit den Zügeln, und das Pferd trabte hufeklappernd davon.
Keiner rührte sich, bis das Fuhrwerk um eine Biegung der Straße verschwunden war und die Geräusche sich verloren hatten. Dann fanden sich die Stadtleute, wie von einem Bann erlöst, in kleinen Gruppen zusammen und diskutierten aufgeregt. Pennel griff nach dem Holzgeländer der Treppe, umklammerte es mit aller Kraft. Er atmete tief aus, kniff die Augen zusammen und wandte sich an den Mann, dessen Wagen Jondalrun genommen hatte. »Suche Agron«, sagte er. »Sag ihm, er soll sich auf Jondalruns Hof mit mir treffen.«
Er sah dem Mann nach, wie er die Straße hinuntereilte, stolz, die Anordnung des Ältesten zu überbringen. Pennel blickte wieder auf seine Hände. Sie zitterten.
Er wusste nicht, was den Tod nach Tamberly gebracht hatte, und er fürchtete sich davor, es herauszufinden.
Auch Agron war mager und klein; er sah Pennel sogar so ähnlich, dass er sein Bruder hätte sein können. Auch im Temperament glichen sie einander; beide waren schweigsam, drückten sich leise und deutlich aus und waren konservativ in ihren Ansichten. Sie hielten einander für zurückhaltend und schroff. In einem Punkt aber stimmten sie vollkommen überein: in ihrer Zuneigung zu dem mürrischen alten Mann, der ebenfalls zum Ältestenrat gehörte. Als Agron von Jondalruns Verlust hörte, sattelte er hastig sein Pferd und ritt aus der Stadt hinaus über die staubige Straße, die südlich der Toldenarhügel zu Jondalruns Hof führte.
In der Scheune muhten die ungemolkenen Milchkühe klagend. Pennel und Agron hasteten die Steintreppe hinauf in das Haus, wo sie Jondalrun fanden: Er war auf dem Schaffell neben seinem Lieblingsstuhl zusammengebrochen. Im Schlafzimmer lag Johans Leiche auf dem Bett, die Steppdecke war blutbefleckt.
Pennel blickte Agron an. »Wir müssen das für ihn richten«, sagte er. Agron nickte, und gemeinsam trugen sie Johans Kinderbett aus der Dachkammer nach unten. Agron zündete im Kamin ein
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