Drachenlanze - Die Stunde der Diebe
mein
Volk.«
Während dieser Einleitung war Tolpan mit einem Armvoll
Holz zurückgekehrt, wobei er mit dem Licht durch die Bäume
leuchtete und das Hörn spielerisch an die Lippen setzte. Er
schmiß das Holz ohne weitere Umstände auf den Boden und
ließ sich dann neben Flint auf einem Holzklotz nieder. Dann
zog er die Knie eng an die Brust, schlang die Arme darum und
legte das Kinn auf die Knie. »Hör nicht meinetwegen auf«,
sagte er. »Ich hör zu.«
Das Feuer knisterte, und Funken flogen durch die Luft,
während Selana ihre Geschichte fortsetzte. »An diesem Tag der
Rückkehr hatten wir uns auf der Sandebene vor der Stadt zu
Zeremonien und Festlichkeiten versammelt. Ich sollte neben
meinem Vater auf dem Korallenschlitten sitzen, wenn er die
Bürger begrüßte. Aber als es soweit war, war ich nirgends zu
finden. Mein Vater konnte den Festakt nicht verschieben,
obwohl er über meine Pflichtvergessenheit wütend war. Darum
schickte er den Hauptmann seiner Leibwache los, um mich zu
suchen.«
Mit großen Augen platzte Tolpan heraus: »Wo warst du
denn? Ich wette, du warst in Gefahr!«
Selana lächelte versonnen. »Ja, aber nicht so sehr wie mein
Vetter Trudarqqo. Er war erst acht und war vor der Zeremonie
auf eigene Faust losgezogen. Meine Tante, die Schwester
meines Vaters, war sehr in Sorge und hatte mich gebeten, ihr
suchen zu helfen. Das war ein paar Stunden vorher. Wir haben
ihn überall auf den Korallenbänken gesucht, wo er immer
spielte, aber wir haben ihn nicht gefunden. Aus einer
plötzlichen Eingebung heraus bin ich in die Stadt
zurückgeschwommen, in eine verlassene Gegend, die uns
verboten war. Wie alle Kinder zieht so ein verbotener Ort
natürlich auch junge Dargonesti-Elfen an. Und da fand ich ihn.
Er hat alles ausgekundschaftet und gespielt, er wäre Nakaro
Silberwache auf seiner langen Suche.«
Tanis hörte gefesselt zu. Selana erinnerte ihn sehr an
Laurana, die Tochter der Stimme der Sonne, mit der er
aufgewachsen war. Wie sie besaß Selana ein herzliches Wesen,
das sich hinter ihrem hochmütigen, selbstsüchtigen Auftreten
versteckte.
»Ich wußte, daß der Festakt inzwischen angefangen hatte
und daß mein Vater mich ausschimpfen würde. Darum wollten
wir eilig zurück, aber als wir an einem verlassenen Haus
vorbeikamen, roch ich den unverkennbaren Gestank der Haie,
unserer Todfeinde.
Ich spähte hinein und entdeckte drei große, weiße Monster,
die sich zweifellos versammelt hatten, um ein paar DargonestiElfen aufzulauern, sie zu töten und uns das Fest zu verderben.
Und sie hatten Trudarqqo bemerkt und stießen voller Mordlust
aus ihrem Versteck hervor.
Mit ihren schrecklichen Zähnen schnappend, schössen die
Riesenviecher durch die Wellen und jagten dem entsetzten
Kind nach. Mich hatten sie nicht gesehen, und dadurch hatte
ich einen Vorteil. Mit meinem mächtigsten Zauberspruch
erschuf ich sechs Abbilder von mir und umringte die Haie. Ich
ließ mich so wild wie möglich aussehen und tat, als wenn ich
sie angreifen wollte. Weil sie glaubten, sie wären zahlenmäßig
unterlegen, flohen die Haie – direkt zum Festplatz!
Ich habe sie die ganze Zeit gejagt, und als sie auf dem
Festplatz auftauchten, war dort die Hölle los. Mein Volk ist
nicht kriegerisch, und die Haie suchten in ihrer Panik Schutz in
der Menge. Zum Glück ist die Leibwache meines Vaters gut
ausgebildet, und die hat sofort eingegriffen. Innerhalb von
wenigen Minuten hatten sie die Haie aus der Menge getrieben
und getötet. Niemand wurde ernstlich verletzt.
Nachdem die Körper unserer Feinde in die Küchen geschleppt worden waren, fuhr mein Vater mit dem Festakt fort.
Während seiner Ansprache gab er mir öffentlich den Beinamen
>Haijägerin<. Das war der schönste Augenblick in meinem
Leben.«
»Hui, was für eine Geschichte! Siehst du es nicht vor dir,
Tanis?« Tolpan platzte fast vor Aufregung. »Die Haie rasen in
die Menge, während die Soldaten näherkommen, und überall
flitzen Bilder von Selana herum. Das hätte ich gern gesehen.«
»Bestimmt, Tolpan«, stimmte Tanis zu und reckte sich. »Ihr
seid wirklich abenteuerlustig, Prinzessin.«
Obwohl es im flackernden Licht des Feuers und wegen
Selanas Blässe schlecht zu erkennen war, kam es Tanis so vor,
als ob die Meerelfenprinzessin errötete. »Das Leben im Meer
ist schön und voller Kraft, aber oft auch rauh.«
Es kam eine kurze, fast unangenehme Stille auf, bis Tanis
anbot: »Ich übernehme die erste Wache.« Die Nacht war warm,
aber ein leichter Frühlingswind
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