Drachenmonat
dem Rasen unter der Eiche stand. Es sah aus, als würden ihre Haare schweben.
»Hallo«, sagte sie.
»Hallo.«
»Bist du mit deinen Hausaufgaben fertig«?-«
»Die mach ich heute Abend.«
»Vielleicht wirst du morgen dauernd gefragt.«
»Dann geb ich dauernd die richtigen Antworten.«
»Wie ist deine neue Lehrerin«?«
»Die netteste der Welt.« Ich lächelte.
»Da hast du aber Glück«, sagte sie und lächelte zurück.
Wir gingen nicht in dieselbe Schule. Kerstin wohnte auf der anderen Seite des Flusses. Es war eine kleine Stadt, trotzdem war sie in zwei ungleich große Teile beiderseits des Flusses aufgeteilt. Kerstins Schule war noch aus Holz, und meine war gemauert. Ihre war klein, und meine war groß.
»Sie ist sogar noch netter als unsere frühere Lehrerin«, sagte ich. »Es ist kaum zu fassen.«
»Du hast wirklich Glück, Kenny.«
»Ich bin eben ein Glückspilz.«
»Vielleicht bin ich eine Glückspilzin.«
»So ein Wort gibt es nicht.«
»Wohl.«
»Gibt es nicht. Das hab ich noch nie gehört.«
»Wo bleibt da die Gerechtigkeit«? Wenn es Glückspilze gibt, muss es auch Glückspilzinnen geben. Das ist doch wohl klar.«
»Du hast gerade ein neues Wort erfunden«, sagte ich. »Vielleicht werde ich Erfinderin«, sagte sie.
»Du bist schon eine.«
Ich wusste, dass sie nicht auf den Kopf gefallen war. Das hatte ich sofort gemerkt, als ich das erste Mal mit ihr im Camp gesprochen hatte. Ich durfte nicht unaufmerksam werden, sie war viel zu gescheit.
»Wollen wir runter an den Fluss?«, fragte ich.
Wir gingen durch den Park und den Abhang zum Wasser hinunter. Der Fluss war im Lauf des Sommers geschrumpft und fast so schmal, dass der Weltmeister im Weitsprung hinüberspringen könnte oder der Weltmeister im Dreisprung, wenn er auf Wasser abspringen könnte. Oder sie. Kerstin mochte es nicht, wenn ich jemanden, der etwas konnte, mit »er« bezeichnete. Ich sagte es automatisch, und sie hatte Recht. Aber der Weltmeister im Dreisprung sprang weiter als die Weltmeisterin. Kerstin sprang jedoch weiter als ich. Sie hatte längere Beine.
»Im Frühling stand das Wasser bis hier oben«, sagte ich, während wir den Abhang hinuntergingen.
»So war es auf der anderen Seite auch«, sagte Kerstin.
»Warst du damals da?«
»Na klar.«
»Ich war hier«, sagte ich. Sie nickte.
»Hast du mich gesehen?«, fragte ich.
»Hast du mich gesehen?«, fragte sie zurück.
»Das muss ich doch«, sagte ich.
»Das muss ich auch«, sagte sie.
»Ich hatte mein Katana.«
»Ich hatte keins.«
»Jetzt hast du eins.«
Das stimmte. Wir hatten im Sommer ein Katana für Kerstin gemacht, und sie hatte es mit nach Hause genommen.
»Aber das habe ich heute nicht bei mir.« Sie schaute auf mein Schwert.
»Eins reicht«, sagte ich.
»Hast du es mit in die Schule genommen? Das wolltest du doch«?«
»Ich hab’s mir anders überlegt.«
»Warum?«
»Ach, das ist blöd. Sie würden es mir nur wegnehmen. Es ist die falsche Art.«
»Die falsche Art von was?-«
»Die falsche Art zu kämpfen.« Kerstin schwieg.
»Nicht den Krieg soll man gewinnen.«
»Was soll man denn gewinnen?-«
Jetzt schwieg ich. Welchen Krieg? Den Krieg gegen die Großen?- Den Krieg gegen sich selbst - nicht groß zu werden? Aber es war kein Krieg, den man gewinnen konnte.
»Ich hab fünfzig Öre.« Sie hielt eine Münze hoch. Die Sonne fiel darauf, wie auf ihre Haare. Der Fünfziger glänzte wie eine Goldmünze.
»Wie schön für dich«, sagte ich.
»Ich dachte, ich lade uns zu Eis ein«, sagte sie und steckte die fünfzig Öre wieder in die Tasche. »Wie schön für mich«, sagte ich.
Der Herbst in diesem Jahr war mild und sonnig. Er war wie eine Verlängerung des Sommers, nur die Tage wurden kürzer und die Nächte kälter. Das Laub an den Bäumen leuchtete golden, als ginge überall die Sonne unter. Die Luft war sauber, bestimmt war es gesund, sie einzuatmen. Ich mochte den Herbst. Dann schien alles von vom anzufangen. Manche sagten, der Herbst sei die Zeit, in der alles verrottete und starb und verschwand, aber das stimmte nicht.
In den vergangenen Sommern war ich immer im Camp gewesen, und deswegen hatte ich mich nie auf den Sommer gefreut. Ich hatte mich nach dem Herbst gesehnt, denn dann war der Sommer endlich vorbei. Und dieser Herbst war etwas Besonderes. Ich war zu alt, um wieder in einem Camp aufgenommen zu werden, und im Übrigen gab es keins mehr. Wir hatten es in diesem Sommer abbrennen lassen.
Kerstin und ich gingen am Fluss
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