Drachenreiter
Ben unten an den grünen Hängen käfergroße Kühe entdeckte, wurde ihm schwindelig. Schnell trat er einen Schritt zurück.
»Was ist?«, fragte Schwefelfell spöttisch und wagte sich so weit an den Abgrund heran, dass ihre pelzigen Zehen in die Luft ragten. »Magst du die Berge nicht?«
»Ich werd mich dran gewöhnen«, antwortete Ben. »Du hast dich doch auch ans Fliegen gewöhnt, oder?« Er drehte sich zu Lung um. Der hatte einen Platz gefunden. Im Schatten eines Felsvorsprungs hatte er sich zusammengerollt, die Schnauze auf den Tatzen, den Schwanz um sich herumgelegt.
»Das Fliegen macht Drachen furchtbar müde«, flüsterte Schwefelfell Ben zu. »Wenn sie danach nicht ihren Schlaf bekommen, werden sie traurig. So traurig, dass nichts mit ihnen anzufangen ist. Und wenn es dann vielleicht noch regnet«, sie verdrehte die Augen. »Oje, oje, ich kann dir sagen ... Aber zum Glück«, sie guckte zum Himmel hinauf, »sieht es kein bisschen nach Regen aus oder bist du schon wieder anderer Meinung?« Ben schüttelte den Kopf und sah sich um.
»So, wie du guckst, bist du noch nie in den Bergen gewesen, was?«, fragte Schwefelfell.
»Auf einem Müllberg war ich mal, zum Rodeln«, sagte Ben. »Aber der war nicht höher als die Tanne da.«
Er setzte sich auf seinen Rucksack in das taufeuchte Gras. Furchtbar klein kam er sich vor zwischen den hohen Gipfeln - klein wie ein Käfer. Trotzdem konnte er sich nicht satt sehen an all den Buckeln und Spitzen, die den Horizont verstellten. Auf einem Gipfel, weit, weit entfernt, entdeckte Ben die Ruine einer Burg. Schwarz ragte sie in den Morgenhimmel. Und obwohl sie kaum größer als eine Streichholzschachtel war, sah sie bedrohlich aus.
»Guck mal.« Ben stieß Schwefelfell an. »Siehst du die Burg da?«
Das Koboldmädchen gähnte. »Wo? Ach, die.« Sie gähnte noch einmal. »Was ist mit der? Da, wo Lung und ich herkommen, gibt's viele davon. Sind alte Menschenhäuser. Solltest du doch wissen.« Sie öffnete ihren Rucksack und stopfte sich ein paar von den Blättern in den Mund, die sie unter der Brücke gesammelt hatte. »So!« Sie warf ihren Rucksack ins kurze Gras. »Einer von uns kann sich jetzt aufs Ohr legen, der andere hält Wache. Sollen wir losen?«
»Nein, nein.« Ben schüttelte den Kopf. »Leg dich ruhig hin. Ich könnte jetzt sowieso nicht schlafen.«
»Wie du meinst.« Schwefelfell stapfte dorthin, wo Lung schlief. »Aber fall nicht von irgendwas runter, ja?«, rief sie über die Schulter. Dann rollte sie sich neben dem Drachen zusammen und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Ben holte einen Löffel und eine Dose Ravioli aus seinem Rucksack, machte sie mit dem Taschenmesser auf und setzte sich damit in sicherer Entfernung vom Abgrund ins Gras. Während er die kalten Nudeln löffelte, sah er sich um. Wache halten. Er guckte zu der Burg hinüber. Winzige Punkte kreisten über ihr am hellen Himmel. Ben musste an die Raben denken, von denen Gilbert Grauschwanz erzählt hatte. Ach was, dachte er. Jetzt seh ich schon Gespenster.
Die Sonne stieg immer höher. Sie verscheuchte den Nebel aus den Tälern und machte Ben schläfrig. Also sprang er auf und ging ein bisschen auf und ab. Als Schwefelfell laut zu schnarchen begann, schlich er sich heran, griff in ihren Rucksack und zog die Karte von Gilbert Grauschwanz heraus.
Vorsichtig breitete er sie aus und holte seinen Kompass aus der Tasche. Dann zog er an einem der Bänder und sah sich die Berge, in denen sie sich befinden mussten, genauer an. Besorgt betrachtete er die Eintragungen der Ratte. »Da!«, murmelte er. »Ich hab's gewusst. Mittendrin in so einem verdammten gelben Fleck sind wir gelandet. Viel zu weit östlich. Das fängt ja gut an.« Plötzlich raschelte etwas hinter ihm.
Ben hob den Kopf. Da. Da war es wieder. Ganz deutlich. Er drehte sich um. Schwefelfell und Lung schliefen. Nur die Schwanzspitze des Drachen zuckte im Traum. Unbehaglich guckte Ben sich um. Ob es auf Bergen Schlangen gab? Schlangen waren so ziemlich das Einzige, vor dem er wirklich Angst hatte. Ach was, wahrscheinlich ein Kaninchen, dachte er. Er faltete die Karte zusammen, steckte sie zurück in Schwefelfells Rucksack und - traute seinen Augen nicht.
Hinter einem großen, moosbewachsenen Stein, kaum einen Schritt entfernt von ihm, trat vorsichtig ein kleiner, dicker Mann hervor. Kaum größer als ein Huhn war er, mit einem gewaltigen Hut auf dem Kopf, der genauso grau war wie die Felsen ringsum. In der Hand hielt er eine
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