Drachenspiele - Roman
den Tisch und räumte die halb vollen Suppenteller ab.
Am liebsten hätte er ihr geantwortet, dass auch diese Aussage, gemessen an der niedrigeren Lebenserwartung von Männern dieser Generation, einen nicht geringen Wahrscheinlichkeitswert hatte, zögerte jedoch und entschied sich, lieber zu nicken und zu schweigen.
Christine verstand es als Aufforderung weiterzuerzählen. »Er sagt, dass ein Mann in mein Leben tritt. Dieser Mensch hat für mich eine groÃe Bedeutung und kommt mir immer näher.« Sie machte erneut eine Pause und schaute ihn an. Ihre Stimme war zu einem Flüstern verebbt. Paul musste sich weit über den Tisch beugen, um ihre letzten Worte zu verstehen.
»Das ist nicht gut für ihn. Er wird dieses Jahr nicht überleben.«
Paul schüttelte den Kopf. »Das bedeutet doch nicht, dass du mich tötest.«
»Ich habe nicht gemeint, dass ich dich ermorde. Es ist die Nähe zu mir, die dich umbringen wird.«
»Für wie lange soll das gelten?«
»Im Jahr des Schweins, bis zum chinesischen Neujahr. Also die nächsten neun Monate.«
Paul lehnte sich zurück. Er blickte Christine lange an. Am liebsten hätte er laut losgelacht. Oder ihren Kopf in seine Hände genommen, sie zärtlich auf die Stirn geküsst in der
Hoffnung, dem Spuk damit ein Ende zu bereiten. Aber die Art, wie sie ihn anschaute, wie der Blick ihrer dunkelbraunen Augen auf ihm lag, lieà keinen Zweifel zu: Sie meinte es ernst.
»Ich war nicht in einer dieser Buden am Wong-Tai-Sin-Tempel und habe mir für hundert Hongkong-Dollar aus der Hand lesen lassen«, sagte sie, als habe sie die Hoffnung, ihn zu überzeugen, noch nicht aufgegeben. »Ich war bei Wong Kah-Wei. Er ist einer der angesehensten Astrologen in Hongkong. Es gibt reiche Europäer und Amerikaner, die jedes Jahr in die Stadt kommen, nur um ihn zu konsultieren, und dafür ein Vermögen ausgeben. Er war sogar schon einmal in London, um jemanden aus dem Königshaus zu beraten. Ich kann ihn mir nur leisten, weil ich ihn schon so lange kenne und einen besonderen Preis bekomme. Ich habe seine ganze Vorhersage auf Band. Wenn ich will, kann ich sie mir irgendwann anhören und prüfen, ob er Recht hatte.«
»Und wenn nicht? Bekommst du dann dein Geld zurück?«
Es war nicht der richtige Moment für Witze. Sie musterte ihn mit einer Mischung aus Ãrger und Enttäuschung.
»Kennst du die Geschichte von Ãdipus?«, fragte er.
»Nein«, antwortete sie knapp. Offensichtlich erwartete sie einen weiteren Scherz.
»Eine griechische Sage. Ein Seher verkündet einem König, dass sein Sohn ihn töten und Liebhaber der eigenen Mutter werden würde. Um diesem Schicksal zu entgehen, setzt der König seinen neugeborenen Sohn zum Sterben aus, doch ein Hirte rettet ihn. Ãdipus wird von einem kinderlosen Königspaar aufgezogen, das er verlässt, als ein Orakel ihm prophezeit, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Auf der Flucht gerät er in Streit mit einem alten Mann und tötet ihn - es ist sein Vater, der König von Theben. Weil Ãdipus
die Stadt von einer Sphinx befreit, erhält er die Witwe des Königs zur Frau - es ist seine Mutter. Hätte der König nicht auf den Wahrsager gehört, wäre nichts davon passiert. Die Prophezeiung geht in Erfüllung, weil der König sie ernst nimmt und versucht, sie zu verhindern. Ich schlage vor, wir ignorieren die Voraussage deines Astrologen.«
»Du verstehst nicht, was ich meine«, sagte sie kopfschüttelnd. »Deine Geschichte bestätigt mir nur, dass es für jeden von uns ein Schicksal gibt, dem wir nur sehr bedingt ausweichen können. Daran glaubst du nicht?«
»Nein.«
»Woran glaubst du?«
Er schaute Christine in die Augen. Er wollte ihr spontan etwas entgegnen, etwas Komisches, ein letzter Versuch, der Situation ihren Ernst zu nehmen, aber ihm fiel nichts ein, und je länger er schwieg, desto lauter hallte die Frage durch seinen Kopf. Was sollte er, Paul Leibovitz, Sohn einer deutschen Katholikin und eines amerikanischen Juden, aufgewachsen in München und New York, alleinstehend, keiner Religion zugehörig, im vierundfünfzigsten Jahr seines Lebens, nach Ende zahlreicher Beziehungen von unterschiedlicher Intensität und Dauer, nach dem Scheitern einer Ehe und dem Tod seines Kindes, antworten? Woran glaubte er?
Paul schwieg.
Christine erwartete
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