Drachenspiele - Roman
eine Antwort.
Justin hatte ihn einmal gefragt, ob er an Gott glaube.
Nein, hatte Paul erklärt, ich glaube an Miss Rumphius. Ãber das Gesicht seines Sohnes war ein Lächeln geflogen. Die Geschichte von Miss Rumphius war lange Zeit Justins Lieblingsbuch gewesen. Ein kleines Mädchen muss seinem Opa versprechen, etwas zu tun, »um die Welt in einen schöneren Ort zu verwandeln«. Als alte Frau erinnert sie sich an
ihr Versprechen, nimmt ihr Erspartes, kauft Blumensamen und verstreut sie. Im Jahr darauf wachsen daraus die ersten Pflanzen, sie verteilen ihre Samen weiter, und schon bald erstrahlt die ganze Umgebung in wunderschöner Blütenpracht.
Du meinst, du glaubst an Menschen, die ihre Versprechen halten?
Ja, hatte Paul seinem Sohn geantwortet. Und an Menschen, die etwas tun, um die Welt in einen schöneren Ort zu verwandeln. Justin hatte verstanden, was er meinte. Christine, fürchtete er, würde glauben, er nehme sie nicht ernst.
»Ich weià nicht, was du hören möchtest«, antwortete er ausweichend.
»Ich verstehe dich nicht. Was ist an dieser Frage so schwierig?«
»Nichts. Aber über diese Was-ist-der-Sinn-des-Lebens-Fragen denkt man doch eher als Teenager nach, oder?«
»Warum? Es schadet nicht, wenn man sie sich hin und wieder stellt.«
»Also«, Paul atmete tief durch, »ich glaube an die Musik. An ein gutes Essen. An einen schönen Abend mit dir...«
»Ich wollte nicht wissen, was dir Freude bereitet«, unterbrach sie ihn.
»Ist das nicht dasselbe?«
»Nein.« Sie rollte die Augen und blickte auf die Uhr.
Er hatte sie nicht verärgern wollen.
Je länger er versuchte, ihrer Frage auszuweichen, desto mehr irritierte sie ihn. Woran glaubte er? Nicht an einen Gott, wie immer man ihn nennen mochte. An keine Macht, die unser Schicksal lenkt. Nicht an Fügung oder eine Bestimmung. Wenn überhaupt, dann an den Zufall. An die Willkür der Natur. An ihre Ungerechtigkeit. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen .
Wenn Paul ehrlich war, hatte er auf Christines Frage keine Antwort.
»Ich muss darüber in Ruhe nachdenken«, sagte er nach einer langen Pause. »Darf ich versuchen, dir später darauf zu antworten?«
»Wann immer.«
»Und du? Woran glaubst du? Abgesehen von den Sternen.«
»Das weiÃt du doch. An Feng Shui. An Yin und Yang. An die Kraft der Harmonie. Ich sehe das Leben wie ein riesiges Mobile, an dem viele Gewichte hängen. Sie müssen sich im Gleichgewicht befinden, sonst funktioniert es nicht. Ich glaube an das Schicksal. Ich bin überzeugt, dass es kein Zufall war, dass wir uns begegnet sind. Es war Bestimmung.«
Sie schaute wieder auf die Uhr.
»Ich könnte dir jetzt Geschichten von Freundinnen erzählen, denen ein Astrologe die erstaunlichsten Sachen vorhergesagt hat, die auch eingetroffen sind. Aber ich habe leider nicht die Zeit, den Rest des Nachmittags mit dir über chinesische Astrologie zu diskutieren. Wenn du dich selbst überzeugen willst, ruf Meister Wong an.« Sie holte einen Stift aus der Tasche und schrieb eine Telefonnummer auf die Serviette.
»Du kennst seine Nummer auswendig?«, fragte er und hoffte, Christine würde die Andeutung eines Misstrauens in seiner Stimme überhören.
»Ich konsultiere ihn seit Jahren. Frag ihn, was immer du möchtest. Er weià nichts über dich. Vielleicht kann er dich überzeugen.«
Sie wollte aufbrechen, Paul hielt sie fest.
»Wenn ich zu ihm gehe, und er sagt mir, dass dies ein gutes Jahr für mich wird, in dem mir keine Gefahren für Leib und Seele drohen, was geschieht dann?«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Und wenn doch?«
»Dann müssen wir ihn noch einmal gemeinsam befragen. Nun muss ich aber los.«
Sie stand auf, nahm die Pralinen, die Rose und gab ihm einen Kuss. »Ich ruf dich heute Abend an. Spätestens, wenn Josh im Bett ist. Versprochen.«
Paul blickte ihr nach. An der Tür drehte sie sich noch einmal um, formte die Lippen zu einem Kuss, lächelte kurz. Sie in den nächsten neun Monaten kaum zu sehen war unvorstellbar. Wegen der Prophezeiung eines chinesischen Astrologen. Weil das Schwein nicht mit dem Drachen konnte. Oder Winterholz sich vom Wasser fernhalten sollte. Das Pferd die Kreise der Ratte stört. Absurd. Wenn ein Besuch bei Wong Kah-Wei die einzige Möglichkeit war, Christine zu beruhigen, dann wollte er sich dem
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