Drachenspiele - Roman
Hokuspokus unterziehen.
Er wählte die Nummer. Eine Frauenstimme. Nein, Meister Wong habe keine Zeit. Heute nicht. Morgen nicht. Der nächste freie Termin sei in acht Wochen. Paul verfiel ins Kantonesische, und es begann ein leidenschaftliches Feilschen, an dessen Ende er für das Dreifache des normalen Honorars einen Termin für den frühen Abend bekam.
Auf seinen Reisen in den vergangenen dreiÃig Jahren hatte auch Paul die Bekanntschaft von Wahrsagern, Astrologen oder Kartenlegern gemacht. Aus Spaà oder Langeweile oder auch aus Neugier, weil ein Bekannter irgendjemanden aufs Dringlichste empfahl. Auf Sumatra hatte eine blinde Geisterseherin ihn davor gewarnt, je wieder mit einem Schiff zu fahren. In Bangkok hatte ein ehemaliger Mönch in seinen Handlinien absolut sichere Zeichen für die bevorstehende prunkvolle Hochzeit mit einer indischen Prinzessin gefunden. Ein Chinese in Kunming prophezeite ihm groÃen
Reichtum im vierzigsten Lebensjahr. Paul hatte sich all die Geschichten amüsiert angehört und ihnen keine weitere Beachtung geschenkt. Zu Recht, wie er fand. Er war kein Millionär geworden, lebte nicht im Adelsstand, liebte Bootsfahrten und hatte bisher jede bei bester Gesundheit überstanden. Natürlich hatte er auch immer wieder Geschichten gehört vom Bekannten eines Bekannten, dem ein Seher, Wahrsager oder Handleser etwas gesagt hatte, das dann angeblich genau so eingetreten war. Jeder kannte solche Geschichten vom Hörensagen. Märchen, dachte Paul. Dumme, alberne Märchen.
Unter Meister Wong stellte er sich einen alten Mann mit weiÃen Haaren vor, der in einem kleinen Kabuff irgendwo im tiefsten Mongkok oder Ma Tau Wai hauste. Spärliches Licht von einer Glühbirne unter der Decke, ein paar Räucherstäbchen in der Ecke, vielleicht eine Glaskugel auf dem Tisch, Tarotkarten in greifbarer Nähe.
Der Meister empfing seine Besucher im achten Stock des Great Wealth Buildings in der Queens Road Central, eine der teuersten Adressen Hongkongs. Im Vorzimmer saà Frau Yiu, eine elegant gekleidete Dame um die fünfzig. Sie bat Paul, noch einen Moment Platz zu nehmen, und verschwand in einer kleinen Küche, um Tee zuzubereiten. Der Raum war ungewöhnlich groà für ein Sekretariat, in einer Ecke plätscherte ein Brunnen, an der Wand gegenüber schwammen kleine rote Fische in einem imposanten Aquarium, daneben standen mehrere antike chinesische Tonfiguren in einem Regal. Auf Frau Yius Computerbildschirm konnte Paul den Tagesschlussstand der Aktienindexe von Hongkong, Shenzhen und Shanghai erkennen. Vor den grünen Zahlen blinkten Pluszeichen; es musste ein guter Tag an den Börsen gewesen sein.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und vor ihm stand ein kleiner hagerer Mann, der ihn musterte, ohne etwas zu sagen. Sein
Gesicht wirkte streng, und Paul beschlich im ersten Moment das Gefühl, vor einem Bankbeamten zu sitzen, den er um einen Kredit bitten musste. Ohne hinreichende Sicherheiten.
»Meister Wong?«
Der Mann nickte und forderte Paul mit einer Handbewegung auf, ihm in sein Büro zu folgen.
Auch auf Meister Wongs flachem Bildschirm sah Paul Aktienkurse aufleuchten. In einer Ecke lehnte neben einem prall gefüllten Bücherregal eine Golfausrüstung, auf dem Schreibtisch lagen Bücher, Papier, Bleistifte, ein Montblanc-Füller und zwei aufgeschlagene Tageszeitungen: Anscheinend hatte der Astrologe die Berichte über die gestrigen Pferderennen in Happy Valley studiert. Paul wollte sich gerade fragen, worauf er sich hier eingelassen hatte, als er die Stimme des Astrologen vernahm. Sie war leise, ein Flüstern fast, und füllte dennoch den Raum bis in den letzten Winkel. Fest und durchdringend, verlieh sie dem Mann eine geradezu unheimliche Autorität, die so gar nicht zu seiner äuÃeren Erscheinung passte.
Es war keine Stimme, der man gern widersprach.
»Sie kennen sich mit chinesischen Horoskopen aus?« Es klang, als wäre das eine Voraussetzung für die Konsultation.
»Ja.«
»Dann sagen Sie mir, was Sie wissen möchten.«
»Wie die kommenden Monate für mich werden. Ob mir im Jahr des Schweins Gefahren drohen, oder ob es ein gutes Jahr wird.«
»Ich vermute, es geht um eine Investition? Immobilien? Den richtigen Zeitpunkt für eine Geldanlage?«
»Nein«, antwortete Paul irritiert. »Ganz allgemein.«
»Dann brauche ich das Datum Ihrer Geburt. Den Ort.
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