Drachenspiele - Roman
Für immer und immer« geendet hatte? Nichts davon rechtfertigte seine innere Unruhe. Und trotzdem war sie da.
Je länger er nachdachte, desto mehr verstand er, dass es nicht Christine war, die ihn verunsicherte. Er war es selbst. Warum geriet er wegen solcher Kleinigkeiten so sehr aus der Fassung? Warum wuchsen in ihm so schnell Zweifel und Furcht?
Christine hatte ihn vor kurzem gefragt, ob er auf Lamma im Exil lebe. Das Wort hatte ihn seltsam berührt. Exil. Exilium auf Lateinisch, wenn er sich richtig erinnerte. In der Fremde weilend. Verbannung. Nein, hatte er spontan antworten wollen. Mich hat niemand verbannt. Er war kein Flüchtling und kein Verfolgter. Er konnte nicht in der Fremde weilen, weil das nur Menschen konnten, die eine Heimat hatten. Die besaà Paul nicht. Seine Eltern waren tot. Mit seinem Geburtsland verband ihn nichts. Von Deutschland erinnerte er kaum mehr als die vielen Schiffe im Hamburger Hafen und seltsamerweise das laute, tiefe Tuten des Dampfers, der sie nach Amerika bringen sollte. Seine frühen Kinderjahre in München waren ein Opfer der Zeit geworden, ebenso die Erinnerungen an seine GroÃeltern.
Er war amerikanischer Staatsbürger. Sein blauer Pass bezeugte das. Ein Reisedokument, nicht mehr. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er mit neunzehn Jahren das Land für immer verlassen. Er hatte nirgendwo auf der Welt Verwandte, die er persönlich kannte.
Wenn ihn früher hin und wieder jemand gefragt hatte, wo seine Heimat sei, war seine Antwort stets: Im GroÃen und Ganzen auf der Erde. Die meisten hielten es für einen Scherz.
Er lebte seit über dreiÃig Jahren in Hongkong, aber nicht im Exil. Wenn es überhaupt einen Ort auf der Welt gab, dem er sich vertraut fühlte, war es diese Stadt. Er war ihr dankbar. Sie hatte ihn aufgenommen und nie gezwungen, irgendwo dazuzugehören. Das entsprach ihm.
So habe sie es nicht gemeint, hatte Christine erwidert, als er ihr von den Gedanken erzählte, die ihm durch den Kopf gingen. Sie habe mehr an seinen Rückzug nach Justins Tod gedacht. Hatte er sich damit in ein freiwilliges Exil begeben?
Diese Frage hatte Paul sich noch nie gestellt, eine Antwort blieb er schuldig.
Eine Art Selbstverbannung? Ein Exilant, aus dem Leben geflohen, weil er den Schmerz und die Trauer um den Sohn nicht aushielt? Vielleicht. Wenn dem so war, dann lag es an Christine, dass er den Weg zurück gefunden hatte. Ihre Engelsgeduld in den ersten Monaten. Ihre Kraft, seine Launen zu ertragen. Ihre Fähigkeit, nicht mehr zu verlangen, als er geben konnte.
Sie machte ihn wieder mit dem Leben und der einfachen Wahrheit eines alten chinesischen Sprichwortes vertraut: Ein Mensch allein ist noch kein Mensch.
War es da ein Wunder, dass er manchmal überempfindlich reagierte? Er war bestimmt nicht der erste Exilant, dem die Rückkehr in eine über Nacht verlassene Welt Probleme bereitete.
Es stand viel auf dem Spiel. Der kurze Atem des Glücks. Als ob Angst einen Grund bräuchte.
Sein Mobiltelefon zeigte einen verpassten Anruf. Christine. Er rief zurück. Besetzt. Er versuchte es erneut, ohne Erfolg. Auf ihrem Display würde sie sehen, dass er angerufen hatte. Sie wird sich melden, sobald sie Zeit hat.
Er schlich ums Telefon wie früher Justin um eine Tafel Schokolade, von der er die Finger lassen sollte. Er nahm ein Buch und legte es nach wenigen Minuten wieder weg. Er versuchte es mit Musik. Brahms funktionierte nicht, Beethoven auch nicht. Puccini machte die Sehnsucht nur noch gröÃer. Um kurz nach 23 Uhr rief er sie an. Entspannt wollte er klingen. Unaufgeregt, erheitert, beiläufig, alles, nur nicht liebeshungrig.
»Ist etwas passiert?«, war ihre erste Frage.
»Nein. Warum?«
»Du klingst so«, sagte sie.
»Wie klinge ich?«
»Bedrückt.«
Er hasste Telefonieren. Es machte alles nur noch schlimmer. Er hasste es, mit dem kleinen Gerät am Ohr über ernste Dinge zu sprechen, Fragen zu stellen und dann nichts als ein Rauschen zu vernehmen, von dem er nicht wusste, wann es enden würde. Allein auf Antworten warten zu müssen, die für ihn von Bedeutung sein konnten. Er musste sein Gegenüber sehen, sich vergewissern können, ob sich das Gesagte in der Gestik, der Mimik, widerspiegelte, ob es mit dem, was die Augen sprachen, übereinstimmte. Wie viel einfacher war es, am Telefon die Unwahrheit zu sagen. Ein falscher Ton, ein kleines, unbedeutendes
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