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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Man hatte mich in meine Heimatstadt geladen, damit ich einen Vortrag über einen deutschen Dichter halte, der zweihundert Jahre früher, an einem Tag im November, am Wannsee in Berlin eine Mulde gesucht und danach seiner Freundin Henriette Vogel ins Herz und schließlich sich selbst eine Kugel in den Rachen geschossen hatte. Im Rathaus, einem mächtigen Bau aus dem sechzehnten Jahrhundert, am zentralen Platz gelegen, sollte ich im großen Saal einige Gedanken zu diesem Mann und seinem Werk äußern, und da diese Stadt klein ist und die Gasthäuser früh schließen, es nach dem Vortrag also zu spät sein würde, um noch eine ordentliche Mahlzeit zu finden, setzte man sich schon gegen sechs Uhr abends in ein Lokal am Ufer des Flusses, der jene Stadt in zwei Armen durchschneidet.
    Neben den Leuten, die diesen Anlass organisiert hatten, traf eine halbe Stunde später, nachdem das Essen bereits bestellt war, mein Bruder ein und setzte sich zu uns. Ich hatte ihn vor ein paar Wochen angerufen und über meinen Besuch in der alten Heimat informiert, obwohl ich sicher war, dass ihn der Inhalt meines Vortrags, das dunkle, teilweise schwerverständliche Werk eines deutschen Dichters vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wenig interessieren würde. Wir hatten selten Gelegenheit, uns zu sehen; mein Bruder bewegte sich kaum aus jener Stadt heraus, die ich dreiundzwanzig Jahre früher nicht ganz freiwillig verlassen und seither gemieden hatte. Wir führten verschiedene Leben, außer der Mutter und einigen nicht ausschließlich angenehmen Kindheits- und Jugenderinnerungen teilten wir wenig, und gewöhnlich reichten uns zwei Stunden, um der still empfundenen Verpflichtung, sich als Brüder nicht ganz aus den Augen zu verlieren, Genüge zu tun.
    Ich sehe das Bild, wie er an jenem Tag Ende Mai das asiatisch angehauchte Lokal mit vornehmlich jungen Gästen betrat und sich vor dem Hintergrund einer Fensterfront, die den Blick auf ein paar Weiden, den Fluss und die erste Häuserzeile freigab, nach uns umsah, ein schlanker Mann jenseits der vierzig, gepflegt, freundlich, zurückhaltend, ein Junggeselle, wie auf den ersten Blick zu erkennen war. Er setzte sich neben mich, verzichtete auf das Essen und bestellte ein Bier. Am Gespräch über die Literatur und die Struktur der hypotaktischen Satzkonstruktionen, für die jener Dichter und Selbstmörder berühmt ist, beteiligte sich mein Bruder nicht. Er nippte schweigend an seinem Glas. Mir fiel ein, wie er diese Situation vorausgesehen hatte, als er am Telefon meinte, er habe keine Lust, sich in einer Gruppe meiner Verehrer zu finden, er verabscheue nichts so sehr wie Speichellecker. Meine Antwort, es werde sich bestimmt Gelegenheit zu einem Gespräch ergeben, wurde Lügen gestraft, und ich fühlte mich von Minute zu Minute unbehaglicher. Da man in diesem Lokal auf langen Bänken saß, berührten sich unsere Körper, etwas, das ihm zusätzlich unangenehm zu sein schien. Er rutschte auf der Bank hin und her, suchte nach Distanz, und ich fühlte, dass ihn nur die Höflichkeit daran hinderte, sich zu verabschieden, und obwohl auch mir, wie gesagt, die Situation keine Freude machte, war ich diese Stimmung gewohnt, das Schweigen erstaunte mich nicht, sein Schmollen war mir nur allzu vertraut.
    Dann und wann wechselten wir ein paar Sätze, wenn der Kellner die Getränke oder das Essen brachte und eine Pause entstand. Ich erfuhr, dass es ihm nicht gutging, es Probleme mit einer Frau gab, die er vor einigen Jahren kennengelernt hatte und mit deren Liebe es nun, so befürchtete er, zu Ende ging. Die Situation erlaubte nicht, Einzelheiten zu erörtern, wir hätten dies aber wohl auch nicht getan, wenn wir alleine und ungestört gewesen wären. Wenn es eine Vertrautheit zwischen uns gab, dann beschränkte sie sich auf ein komplizenhaftes Schweigen, ein Reden in Andeutungen, das niemals auf den Grund der Dinge stieß.
    Kurz vor acht Uhr wurde die Rechnung beglichen, man stand auf, um in das Rathaus hinüberzuwechseln, er aber, der in der Notschlafstelle erwartet wurde, zum Nachtdienst, wo er den Bettlern und Drogensüchtigen, die sonst kein Obdach hatten, Decken und Betten zuwies, verabschiedete sich und stieg auf sein himmelblaues Fahrrad, ein eigentümliches Gefährt, das einem Motorrad nachempfunden war, mit hohem Lenker, tiefem Sattel und breiten Reifen. Es passte weder zu seinem Alter noch zu seiner Person, eine Tatsache, die ihm bewusst war und aus der er eine diebische Freude bezog. So entfernte er

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