Drachentochter
tausendjährigen Lied von alter Weisheit und neuem Leben, Harmonie und Chaos zu vibrieren.
Ich hob die Arme und drückte die Hände an die feste und doch samtige Oberfläche der Perle. Goldene Flammen stiegen auf und spielten wie brennende Verheißung über meine Haut.
Ido umklammerte meine Handgelenke. Bring sie zu mir.
Der durch seinen Verstand hallende Schrei des Rattendrachen bereitete mir Schmerzen, doch ich lachte nur und spürte ähnliches Frohlocken in der flammenden Perle. Im Vergleich zum wunderbaren Strahlen unserer Verbindung war die blaue Kraft bloß ein Schatten. Die unergründlichen Augen des Ro ten Drachen begegneten meinem Blick, und ihre stumme Frage, die weit tiefer drang als alle Worte, brachte mein Hua in Wallung.
Würde ich ihr Eon geben?
Was meinte sie mit »Eon«? Dann begriff ich: Sie fragte nach der männlichen Kraft in mir, nach der männlichen Ener gie, die ich kultiviert hatte. Nach dem einzigen Selbst, dem ich zu vertrauen gelernt hatte.
Meine Gedanken überschlugen sich. Wollte sie nicht Eona – meine weibliche Energie? Ging es nicht eigentlich nur darum? Warum wollte sie dann Eon? Ich zögerte, wie ich es schon in der Arena getan hatte, und ein tiefer Zweifel zerstörte meine goldene Begeisterung. Ich hatte so hart darum gekämpft, mei ne männliche Energie zu stärken und meine weibliche Energie zu unterdrücken. Wenn ich Eon nun gehen ließe, was würde ihn ersetzen? Ich hatte Eona zu klein werden lassen. Zu schwach. Was wäre, wenn der Drache Eon nähme und nichts mehr üb rig wäre?
Ich löste den Blick von diesem verwirrenden Spiel von Möglichkeiten und sah Ido in die silbrigen Augen. Noch im mer hielt er meine Handgelenke so fest umklammert, als woll te er mir die Sehnen zermalmen. Er wartete auf meine Kraft. Wartete darauf, alles zu nehmen. Was, wenn er zu stark für den Spiegeldrachen war? Er hatte mich bei jeder unserer Begegnungen in der Energiewelt überwältigt, hatte jedes Mal gewonnen, wenn wir durch die Macht des blauen Drachen aufeinandergetroffen waren. Würde es bei dem Roten Drachen anders sein?
Es musste anders sein. Sie war mein Drache, meine Macht.
Ich drückte die Hände an die goldene Perle. Lass mich ge nug sein, flehte ich. Lass uns genug sein.
»Ich bin Eona!«, schrie ich. »Das Spiegeldrachenauge!«
Und plötzlich erstanden alte Bedürfnisse und gehemmte Kräfte aufs Neue in mir und die engen Pfade der Angst und des verzerrten Glaubens vergingen. Die gewaltige Kraft, die ich in mir trug, verwandelte sich in leuchtende Stärke.
Der Rote Drache kreischte und seine schrillen Töne hallten mir durch Geist und Körper. Doch neben seiner Freude waren leise und trauernd andere Stimmen zu hören, ein Klagechor, der in unsere Vereinigung einging. Kam er von den übrigen Drachen?
Plötzlich verstummte der leise Trauergesang und meine Wahrnehmungen teilten sich: Zum einen war ich der Spiegeldrache, und mein riesiger Kopf fuhr herum, um der Wut des blauen Drachen entgegenzutreten, der mich von hinten an griff. Seine gewaltigen Kiefer schlossen sich um meinen gekrümmten Hals. Seine beigegrau schimmernden Klauen fuhren mei ne Flanken hinab und schlugen mir helle, grell schmerzende Wunden aus goldenem Licht.
Zugleich aber war ich in der Gasse und kämpfte gegen Ido, der meine Hände gegen die Mauer stieß, meine Handgelenke mit seinem Unterarm fest an die kalte Wand drückte, ein Bein zwischen meine Schenkel zwängte und mit der anderen Hand die Seide und das Leinen meines Gewands zerriss.
Am Himmel wälzte sich der Spiegeldrache im Kampf, und ich war ein Bündel aus roten und orangefarbenen Muskeln, das einen Kraftstrahl durch die Luft sandte. Pflastersteine und Sand flogen auf, als dieser Strahl eine schmale Schneise der Zerstörung durch die Gasse pflügte. Ich hörte Lady Dela schreien und beobachtete von oben, wie die Soldaten in Deckung rannten und Ryko – eine winzige kauernde Gestalt – im Steinregen zurückließen.
Gib sie mir. Idos Gier drang mir wie eine Faust ins Hirn.
»Nein!«, schrie ich.
Der Rote Drache schrie meinen Trotz heraus und stürzte sich so wild auf den Blauen Drachen, dass die schuppenbesetzten Brustpartien beider Tiere gegeneinanderkrachten. Die Welt zerbarst in reine Energie, als der Drache und ich zu ei nem schimmernden Wesen verschmolzen. Vor uns verwandelte sich Idos Leib in ein Geflecht aus strömendem Hua. Die silbernen Linien waren von einem Belag aus Sonnenpulver getrübt, doch seine Lebenskraft pumpte hektisch
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