Drachentränen
sein Finger am Abzug spannte sich. Connie schielte um die Kisten, die dort aufgestapelt waren.
Über den breiten Zwischenraum hinweg starrten sie sich an.
Der Kerl hatte sich an ihnen vorbei nach hinten geschlichen.
Obwohl Connie sich zum größten Teil im Dunkeln befand, kannte Harry sie gut genug, um zu wissen, dass ihre Lippen lautlos die Worte: Scheiße, Scheiße, Scheiße formten.
Sie kam aus dem nördlichen Dachgesims und kroch durch den freien Raum auf der Ostseite auf Harry zu. Vorsichtig spähte sie in die Öffnungen weiterer Gänge zwischen den Reihen von Kisten und Schaufensterpuppen.
Harry bewegte sich auf sie zu und schielte dabei in die düsteren Gänge auf seiner Seite. Das Dachgeschoss war so weiträumig und so sehr mit Sachen voll gestopft, dass es wie ein Labyrinth war. Und es beherbergte ein Monster, das sich mit jedem Ungeheuer aus der Mythologie messen konnte.
Von der anderen Seite des hohen Raumes kam jetzt die inzwischen vertraute Stimme: »All Shook Up, I Feel So Bad, Steam-roller Blues!«
Harry kniff die Augen zu. Er wollte ganz woanders sein. Vielleicht im Königreich der zwölf Prinzessinnen, die jede Nacht ihre Schuhe zertanzten, mit den zwölf prachtvollen jungen Thronerben, unterirdischen Schlössern aus Licht, Bäumen mit Blättern aus Gold und Blättern aus Diamanten, mit verzauberten Ballsälen voller wunderschöner Musik… Ja, das wäre was. Es handelte sich um eins der sanfteren Märchen der Brüder Grimm. Darin wurde niemand bei lebendigem Leib verspeist oder von einem Troll in Stücke gehauen.
»Surrender!«
Diesmal war es Connies Stimme.
Harry machte die Augen auf und warf ihr einen finsteren Blick zu. Er befürchtete, dass sie ihren Standort verraten würde. Zwar war es auch ihm nicht gelungen, den Kerl mit Hilfe seiner Stimme zu lokalisieren; die Akustik auf dem Dachboden war sehr seltsam, was sie genauso schützte wie den Verrückten. Doch Schweigen war in jedem Fall klüger.
Erneut brüllte der Kerl: »A Mess of Blues, Heartbreak Hotel!«
»Surrender!« wiederholte Connie.
»Go Away Little Girl!«
Connie verzog das Gesicht. »Das war nicht Elvis, du Spatzenhirn! Das war Steve Lawrence. Surrender.«
»Stay Aiuay.«
»Surrender.«
Harry blinzelte, um den Schweiß aus den Augen zu vertreiben und betrachtete Connie verständnislos. Er hatte noch nie so sehr das Gefühl gehabt, nicht mehr Herr der Lage zu sein. Irgendwas lief da zwischen ihr und dem Verrückten ab, aber Harry hatte keine Ahnung was.
»l Don’t Care If the Sun Don’t Shine.«
»Surrender.«
Plötzlich fiel Harry ein, dass »Surrender« der Titel eines Presley-Klassikers war.
»Stay Away.«
Er glaubte, das könnte ein weiterer Presley-Song sein.
Connie schlüpfte in einen der Gänge außerhalb von Harrys Blickwinkel und rief: »It’s Now or Never.«
»What I Say?«
Während sie tiefer in das Labyrinth eindrang, antwortete Connie dem Ganoven mit zwei Presley-Titeln: »Surrender. I Beg of You.«
»I Feel So Bad.«
Nach kurzem Zögern antwortete Connie: »TellMe Why.«
»Don’t ask me why.«
Ein Dialog hatte sich entwickelt. Aus Song-Titeln von Presley. Wie eine eigenartige Quiz-Show im Fernsehen, in der es zwar keine Preise für richtige Antworten gibt, aber jede Menge Risiken für falsche.
Auf den Knien bog Harry in einen anderen Gang als den, den Connie genommen hatte. Ein Spinnengewebe legte sich über sein Gesicht. Er wischte es ab und kroch im Schütz der Schaufensterpuppen tiefer in das Dunkel.
Connie griff auf einen bereits benutzten Titel zurück: »Surrender.«
»Stay Away.«
»Are You Lonesome Tonight?«
Nach einigem Zögern gab der Bursche zu: »Lonely Man.«
Harry konnte die Stimme immer noch nicht lokalisieren. Der Schweiß drang ihm inzwischen wirklich aus allen Poren, feine Reste von Spinnweben klebten in seinen Haaren und kitzelten ihn an der Stirn. Er hatte einen Geschmack im Mund, der vom unteren Ende eines Stößels aus Frankensteins Laboratorium stammen könnte, und er fühlte sich, als ob er aus der Realität in die düsteren Halluzinationen eines Drogenabhängigen getreten wäre.
»Let yourself go«, riet Connie.
»I feel so bad«, wiederholte der Ganove.
Harry wusste, er sollte sich von den merkwürdigen Wendungen, die diese Verfolgungsjagd nahm, nicht so aus der Fassung bringen lassen. Schließlich waren das die Neunziger, ein Zeitalter der Unvernunft, wie es noch nie eins gegeben hatte, in dem das Bizarre so alltäglich war, dass es eine neue
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