Drachentränen
Umschläge mit. Das auf Zelluloid gebannte Lächeln ihrer Schwester. Die Aussicht auf ihre Nichte.
Es regnete immer noch mit solcher Heftigkeit, dass sie sich fragte, ob irgendwo auf der Welt ein neuer Noah zugange wäre und gerade in diesem Augenblick Tiere in Paaren eine Gangway hinauf trieb.
Das Restaurant befand sich in einer Geschäftszeile eines neuen Einkaufszentrums, und eine breite Überdachung sorgte dafür, dass der Fußgängerweg trocken blieb. Ein Mann stand links neben der Tür. Bei flüchtigem Hinsehen hatte Connie den Eindruck, dass er groß und stämmig war, doch sie sah ihn nicht wirklich an, bis er sie ansprach.
»Haben Sie eine milde Gabe für einen armen Mann, bitte? Mitleid mit einem armen Mann, Lady.«
Sie wollte gerade vom Bordstein herunter treten, den Schutz der Überdachung verlassen, doch seine Stimme ließ sie innehalten. So leise, sanft und sogar melodisch wie sie war, schien sie in einem ungeheuren Missverhältnis zur Größe der Person zu stehen, die sie aus den Augenwinkeln gesehen hatte.
Als sie sich umwandte, war sie über die Furcht erregende Hässlichkeit des Mannes erstaunt und fragte sich, wie er sich auch nur einen mageren Lebensunterhalt als Bettler verdienen könnte. Seine ungewöhnliche Größe, das verknotete Haar und der ungepflegte Bart gaben ihm den wahnwitzigen Ausdruck eines Rasputin, obwohl der verrückte russische Priester im Vergleich zu ihm ein hübscher Junge gewesen sein musste. Furchtbare Narben entstellten sein Gesicht, und seine Hakennase war ganz dunkel von geplatzten Blutgefäßen. Seine Lippen waren mit nässenden Blasen übersät. Ein Blick auf seine kranken Zähne und sein Zahnfleisch erinnerte sie an eine Leiche, die sie einmal gesehen hatte, nachdem sie neun Jahre nach der Beerdigung für toxische Untersuchungen exhumiert worden war. Und die Augen. Grauer Star. Dicke, milchige Membranen. Sie konnte darunter kaum die dunklen Ränder der Iris sehen. Sein Aussehen war so bedrohlich, dass Connie sich vorstellte, dass die meisten Menschen, wenn sie von ihm angebettelt wurden, sich eher abwandten und flohen, anstatt auf ihn zuzugehen, um ihm Geld in die ausgestreckte Hand zu drücken.
»Mitleid mit einem armen Mann? Mitleid mit einem Blinden? Eine milde Gabe für einen, der weniger Glück gehabt hat als sie?«
Die Stimme war an sich schon ungewöhnlich, aber noch viel mehr, wenn man bedachte, wo sie herkam. Klar und melodisch, als ob sie das Instrument eines geborenen Sängers wäre, der jedes Lied lieblich singen konnte. Es konnte nur diese Stimme sein, die es ihm trotz seines Aussehens ermöglichte, als Bettler zu leben.
Normalerweise hätte ihm Connie trotz seiner Stimme gesagt, er solle die Fliege machen - wenn auch nicht so höflich. Manche Bettler werden ohne eigenes Verschulden heimatlos, und da sie selbst als Kind in staatlichen Einrichtungen eine Art Heimatlosigkeit erfahren hatte, hatte sie Mitleid mit den wirklichen Opfern. Doch durch ihren Job hatte sie täglich Kontakt mit zu vielen Obdachlosen, um sie als Gruppe romantisieren zu können; nach ihrer Erfahrung waren viele von ihnen schwer gestört und gehörten in ihrem eigenen Interesse in die psychiatrischen Einrichtungen, aus denen Weltverbesserer sie wieder in die Gesellschaft eingegliedert hatten, während andere durch Alkohol, Drogen oder Spielen ihr Elend selbst herbeigeführt hatten.
Sie vermutete, dass in jeder Gesellschaftsschicht, vom Herrenhaus bis zur Gosse, die wahrhaft Unschuldigen eine klare Minderheit waren.
Aus irgendeinem Grund jedoch, obwohl dieser Kerl aussah, als hätte er jede erdenkliche falsche Entscheidung getroffen und jeden selbst zerstörerischen Weg, der sich ihm bot, gewählt, fischte sie in ihren Jackentaschen, bis sie ein paar 25-Cent-Stücke und einen Zehn-Dollar-Schein fand, der vom Alter schon ganz weich geworden war. Zu ihrer größeren Überraschung behielt sie die 25-Cent-Stücke und gab ihm die zehn Dollar.
»Gott segne Sie, Lady. Gott segne Sie und schütze Sie und lasse sein Angesicht über Ihnen leuchten.«
Über sich selbst verwundert, wandte sie sich von ihm ab. Sie lief in den Regen hinaus zu ihrem Auto.
Im Laufen fragte sie sich, was in sie gefahren war. Doch das war nicht so schwer zu erraten. Sie hatte im Laufe des Tages mehr als ein Geschenk erhalten. Ihr Leben war bei der Jagd auf Ordegard verschont geblieben. Und sie hatten den Scheißkerl erwischt. Und dann war da noch die fünfjährige Eleanor Ladbrook. Ellie. Eine Nichte. Connie
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