Drachentränen
»Ich werd’ darüber nachdenken.«
Mickey fiel über sein Moo Goo Gai Pan her, als ob noch nie etwas Köstlicheres aus einer Küche der westlichen Hemisphäre gekommen wäre.
Vom Anblick und Geruch des Essens wurde Connie fast schlecht. Sie wusste, das lag nicht an dem Essen, sondern an ihr. Es gab mehr als einen Grund dafür, dass ihr übel war. Sie hatte einen harten Tag hinter sich.
Endlich stellte sie die noch anstehende schreckliche Frage. »Woran ist Colleen gestorben?«
Mickey betrachtete sie eine Zeitlang, bevor er antwortete. »Das wollte ich dir heute morgen schon sagen.«
»Aber da wollte ich es wohl noch nicht hören, nehm' ich an.«
»Bei der Geburt eines Kindes.«
Connie war auf alle dummen und sinnlosen Arten gefasst gewesen, auf die eine attraktive 28jährige Frau in diesen finsteren letzten Jahren des Jahrtausends plötzlich ums Leben kommen konnte. Doch damit hatte sie nicht gerechnet, und es versetzte ihr einen Schlag.
»Sie war also verheiratet.«
Mickey schüttelte den Kopf. »Nein. Unverheiratete Mutter. Ich kenne die Umstände nicht, weiß auch nicht, wer der Vater ist, doch das scheint für die Ladbrooks kein wunder Punkt zu sein, nichts, was die Erinnerung an sie beschmutzen würde. Sie war in ihren Augen eine Heilige.«
»Was ist mit dem Baby?«
»Ein Mädchen.«
»Es lebt?«
»Ja«, sagte Mickey. Er legte seine Gabel hin, trank einen Schluck Wasser und tupfte sich den Mund mit einer roten Serviette ab. Dabei beobachtete er Connie die ganze Zeit. »Sie heißt Eleanor. Eleanor Ladbrook. Sie nennen sie Ellie.«
»Ellie«, sagte Connie wie betäubt.
»Sie sieht dir sehr ähnlich.«
»Warum hast du mir das nicht heute morgen gesagt?«
»Du hast mir ja keine Chance gegeben. Hast einfach aufgelegt.«
»Hab* ich nicht.«
»Aber so gut wie. Sehr kurz angebunden warst du. Erzähl mir den Rest heut Abend, hast du gesagt.«
»Tut mir leid. Als ich hörte, Colleen sei tot, dachte ich, es ist alles aus.«
»Jetzt hast du eine Familie. Du bist Tante.«
Sie akzeptierte, dass Ellie wirklich existierte, aber sie konnte sich noch kein Bild davon machen, was Ellie für ihr eigenes Leben bedeuten könnte, für ihre Zukunft. Nachdem sie so lange allein gewesen war, konnte sie kaum fassen, dass es tatsächlich noch jemand von ihrem Fleisch und Blut in dieser weiten, chaotischen Welt gab.
»Irgendwo Verwandte zu haben, auch wenn es nur eine ist, muss einen Unterschied machen«, sagte Mickey.
Sie vermutete, dass es einen gewaltigen Unterschied machte. Ironischerweise wäre sie an diesem Tag fast umgebracht worden, bevor sie erfuhr, dass sie einen sehr wichtigen neuen Grund hatte zu leben.
Mickey legte einen weiteren braunen Umschlag auf den Tisch und sagte: »Der Abschlußbericht. Adressen und Telefonnummer der Ladbrooks sind drin, falls du zu dem Schluss kommst, dass du sie brauchst.«
»Danke, Mickey.«
»Und die Rechnung. Die ist auch drin.«
Sie lächelte. »Trotzdem danke.«
Während Connie aus der Nische rutschte und aufstand, sagte Mickey: »Das Leben ist seltsam. So viele Verbindungen zu anderen Menschen, von denen wir noch nicht mal was wissen, unsichtbare Fäden, die uns mit manchen verbinden, die wir seit langem vergessen haben, und manchen, die wir jahrelang nicht sehen werden - wenn überhaupt.«
»Yeah. Seltsam.«
»Noch was, Connie.«
»Was denn?«
»Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das lautet… Das Leben kann manchmal bitter sein wie Drachentränen «
»Ist das noch was von deinem Scheiß?«
»O nein. Das ist ein echtes Sprichwort.« Wie er dort saß, ein kleiner Mann in einer großen Nische, dessen freundliches Gesicht mit den von Lachfalten umgebenen Augen gute Laune ausstrahlte, wirkte Mickey Chan wie ein dünner Buddha. »Aber das ist nur ein Teil des Sprichworts - der Teil, den du bereits verstehst. Das Ganze lautet… >Das Leben kann manchmal bitter sein wie Drachentränen. Doch ob Drachentränen bitter oder süß sind, hängt ganz davon ab, wie jeder Mensch den Geschmack wahrnimmt.<«
»Mit anderen Worten, das Leben ist hart, sogar grausam -aber es kommt drauf an, was du daraus machst.«
Mickey faltete seine schmalen Hände, die Finger eng zusammen und nicht verschränkt, also in orientalischer Gebetshaltung, und verneigte sich mit gespielter Feierlichkeit in ihre Richtung. »Vielleicht wird die Weisheit doch noch irgendwann in deinen dicken Yankee-Schädel eindringen.«
»Alles ist möglich«, räumte sie ein.
Sie nahm die beiden braunen
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