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Drachentränen

Drachentränen

Titel: Drachentränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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gewagt, dass sie nicht allein war.
    Doch nun, wenige Wochen später, war Colleens Schicksal aufgeklärt. Sie war adoptiert worden, in Santa Barbara aufgewachsen - und vor fünf Jahren im Alter von achtundzwanzig gestorben.
    Heute morgen, als Connie erfuhr, dass sie ihre Schwester wieder verloren hatte, diesmal für immer, hatte sie einen so starken Schmerz verspürt wie nie zuvor in ihrem Leben.
    Sie hatte nicht geweint.
    Das tat sie selten.
    Statt dessen war sie mit diesem Schmerz umgegangen, wie sie mit allen Enttäuschungen, Rückschlägen und Verlusten umging, sie hatte sich beschäftigt, zwanghaft beschäftigt - und sie war wütend geworden. Armer Harry. Er hatte den ganzen Morgen die volle Wucht ihres Zorns abgekriegt, ohne die geringste Ahnung, worum es ging. Der höfliche, vernünftige, friedliebende und geduldige Harry. Er würde nie erfahren, wie pervers dankbar sie für die Chance gewesen war, Jagd auf den mondgesichtigen Scheißkerl James Ordegard machen zu dürfen. Dadurch hatte sie ihren Zorn gegen jemanden richten können, der ihn mehr verdiente, um die durch den Schmerz aufgestaute Energie loszuwerden, die sie durch Tränen nicht abbauen konnte.
    Nun trank sie das Tsingtao und sagte: »Heute morgen hast du Fotos erwähnt.«
    Der Kellner räumte die leere Suppenschale ab.
    Mickey legte einen braunen Briefumschlag auf den Tisch. »Willst du sie dir wirklich angucken?«
    »Weshalb sollte ich nicht?«
    »Du kannst sie nie kennen lernen. Die Bilder könnten das überdeutlich machen.«
    »Ich hab’ es bereits akzeptiert.«
    Sie öffnete den Umschlag. Acht oder zehn Fotos rutschten heraus.
    Die am frühesten aufgenommenen Fotos zeigten Colleen im Alter von fünf oder sechs und die zuletzt entstandenen mit Mitte Zwanzig, was fast so alt war, wie sie überhaupt geworden war. Sie trug andere Sachen als Connie je getragen hatte, hatte eine andere Frisur und war in Wohnzimmern und Küchen, auf Rasen und an Stranden fotografiert, die Connie nie gesehen hatte. Doch in allem Wesentlichen - Größe, Gewicht, Haut Ton, Gesichtszüge, selbst im Ausdruck und in unbewussten Körperhaltungen - war sie Connies perfektes Double.
    Connie hatte das unheimliche Gefühl, dass sie Fotos von sich sah, aber aus einem Leben, an das sie sich nicht erinnern konnte. »Wo hast du die her?« fragte sie Mickey Chan.
    »Von den Ladbrooks. Dennis und Lorraine Ladbrook, das Ehepaar, das Colleen adoptiert hat.«
    Als Connie die Fotos noch einmal kritisch prüfte, fiel ihr auf, dass Colleen auf allen lächelte oder lachte. Die wenigen Bilder, die von Connie als Kind gemacht worden waren, waren gewöhnlich Gruppenaufnahmen mit einer Menge anderer Kinder, die in verschiedenen Heimen aufgenommen worden waren. Sie hatte kein einziges Foto von sich, auf dem sie lachte.
    »Was sind die Ladbrooks für Leute?«
    »Geschäftsleute. Sie arbeiten zusammen, ihnen gehört ein Bürobedarfsgeschäft in Santa Barbara. Nette Leute, glaub’ ich, ruhig und bescheiden. Sie konnten selbst keine Kinder kriegen und haben Colleen über alles geliebt.«
    Neid zog Connies Herz zusammen. Sie hätte die Liebe und die Jahre, die Colleen in normalen Verhältnissen verbracht hatte, gerne für sich gehabt. Unsinnig, eine tote Schwester zu beneiden. Und schändlich. Aber sie konnte es nicht ändern.
    Mickey sagte: »Die Ladbrooks sind über ihren Tod nicht hinweggekommen, auch nach fünf Jahren noch nicht. Sie wussten nicht, dass sie ein Zwilling war. Diese Information hatte ihnen das Jugendamt nicht gegeben.«
    Connie steckte die Fotos wieder in den braunen Umschlag, weil sie sie nicht länger ansehen konnte. Selbstmitleid war ein Luxus, den sie verabscheute, doch genau dazu entwickelte sich ihr Neid ganz schnell. Ein Gewicht, schwer wie aufgeschichtete Steine, drückte auf ihre Brust. Später, in der Abgeschiedenheit ihres Apartments würde sie vielleicht noch etwas Zeit mit dem netten Lächeln ihrer Schwester verbringen wollen.
    Die Kellnerin brachte Moo Goo Gai Pan und Reis für Mickey.
    Mickey ignorierte die Stäbchen, die zusammen mit normalem Besteck auf dem Tisch lagen, und nahm seine Gabel. »Connie, die Ladbrooks würden dich gerne kennen lernen.«
    »Warum?«
    »Wie ich schon sagte, sie wussten nicht, dass Colleen eine Zwillingsschwester hatte.«
    »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich kann ihnen Colleen nicht ersetzen. Ich bin jemand anderes.«
    »Ich glaube nicht, dass es so sein würde.«
    Nachdem sie einen Schluck Bier getrunken hatte, sagte sie:

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