Drachentränen
sicher, dass er in dieser Nacht noch häufiger flink und agil sein müsste, wenn er seinen Hintern retten wollte.
Im Medizinschrank fand er eine kleine Flasche Anacintabletten. Er nahm vier davon in die rechte Hand, dann verschloss er die Flasche und steckte sie in die Jackentasche.
Als er zurück in die Küche kam und um ein Glas Wasser bat, um die Tabletten zu nehmen, reichte Connie ihm eine Dose Coors.
Er lehnte ab. »Ich muss einen klaren Kopf behalten.«
»Ein Bier schadet nichts. Es könnte sogar nützen.«
»Ich trinke kaum was.«
»Ich verlange ja nicht, dass du dir Wodka mit ‘ner Nadel reinziehst.«
»Wasser wäre mir lieber.«
»Jetzt stell dich um Himmels willen nicht so an.«
Er nickte, nahm das Bier an, riss den Verschluss auf und schickte den vier Tabletten einen tiefen, kühlen Schluck hinterher. Es schmeckte wunderbar. Vielleicht war es genau das, was er brauchte.
Ausgehungert wie er war, nahm er sich ein Stück kalte Pizza aus der offenen Schachtel auf der Anrichte. Er biss einen Happen ab und kaute mit Begeisterung, ohne seine übliche Rücksicht auf gute Manieren.
Er war noch nie in ihrer Wohnung gewesen, und ihm fiel auf, wie spartanisch sie möbliert war. »Wie nennt man diesen Einrichtungsstil - Früher Mönch?«
»Wer fragt schon nach Einrichtung? Ich tue bloß meinem Vermieter einen kleinen Gefallen. Wenn ich in Ausübung meiner Pflichten abkratze, dann kann er die Bude mit dem Schlauch ausspritzen und am nächsten Tag wieder vermieten.«
Sie ging zu dem Klapptisch zurück und starrte auf die sechs Gegenstände, die sie dort aufgereiht hatte. Einen Zehn-Dollar-Schein, der vom Alter ganz weich geworden war. Eine von der Hitze verfärbte Zeitung, die am Rand ein wenig verbrannt war. Vier deformierte Bleikugeln.
Harry trat neben sie und sagte: »Nun?«
»Ich glaube nicht an Gespenster, Geister, Dämonen und diese Scheiße.«
»Ich auch nicht.«
»Ich hab’ den Kerl gesehen. Er war bloß ein Penner.«
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du ihm zehn Dollar gegeben hast«, sagte Harry.
Sie wurde tatsächlich rot. Das hatte er noch nie erlebt. Dieser Hinweis, dass sie über so was wie Mitleid verfügte, war das erste, was ihr in seiner Gegenwart peinlich war.
Sie sagte: »Ich konnte mich… ihm irgendwie nicht entziehen.«
»Also war er nicht >bloß ein Penner<.«
»Vielleicht nicht, wenn er mir zehn Dollar abluchsen konnte.«
»Eins kann ich dir sagen.« Er stopfte sich den letzten Bissen Pizza in den Mund.
»Dann sag’s mir.«
Mit dem Mund voller Pizza sagte Harry: »Ich hab’ ihn in meinem Wohnzimmer bei lebendigem Leib verbrennen sehen, aber ich glaube kaum, dass man in der Asche verkohlte Knochen finden wird. Und selbst wenn er nicht aus dem Autoradio gesprochen hätte, würde ich damit rechnen, ihn wieder zu sehen, so groß, schmutzig, unheimlich und unversehrt wie immer.«
Als Harry sich ein zweites Stück Pizza holte, sagte Connie: »Ich dachte, du hättest gerade gesagt, dass du auch nicht an Geister glaubst.«
»Tu ich auch nicht.«
»Was dann?«
Er kaute und betrachtete sie dabei nachdenklich. »Du glaubst mir also?«
»Einiges davon hab’ ich selbst erlebt, oder etwa nicht?«
»Yeah. Wahrscheinlich genug, um mir zu glauben.«
»Was dann?« wiederholte sie.
Er hätte sich gern an den Tisch gesetzt und die Füße hochgelegt, doch er glaubte, dass er eher steif würde, wenn er sich in einem Sessel niederließ. Er lehnte sich gegen die Anrichte am Spülbecken.
»Ich habe nachgedacht… Jeden Tag bei unseren Ermittlungen draußen auf der Straße treffen wir auf Leute, die anders sind als wir, die meinen, das Gesetz sei nur ein Trick, um die unwissenden Massen unters Joch zu bekommen. Diese Leute denken nur an sich, nur daran, wie sie ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen können, ohne Rücksicht auf die anderen.«
»Kotzbrocken, Schwachköpfe - die sind unser Job«, sagte sie.
»Kriminelle Typen, Soziopathen. Sie haben viele Namen. Wie die Hülsenmenschen aus der Invasion der Körperfresser sind sie mitten unter uns und gelten als zivilisierte, normale menschliche Wesen. Doch selbst wenn es viele von ihnen gibt, sind sie immer noch eine kleine Minderheit und alles andere als normal. Ihre Zivilisiertheit ist nur ein dünner Anstrich, Schminke, die das schuppige, kriechende wilde Ding verbirgt, aus dem wir uns alle entwickelt haben, das alte Reptilienbewusstsein.«
»So? Das ist nichts Neues«, sagte sie ungeduldig. »Wir sind der schmale Grat
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