Drachenwacht: Roman (German Edition)
nicht einmal in Reichweite der Schiffe; sie hatte in einiger Entfernung abgebremst und stand nun in der Luft, während die Überreste der französischen Luftkräfte über ihr unablässig Kreise zogen. Sie brüllte: Das Echo des Göttlichen Windes wurde über das Wasser zu ihnen getragen, selbst aus dieser weiten Entfernung, und ein feiner Gischtnebel breitete sich als weiße Wolke, von ihr ausgehend, aus.
»Hast du eine Ahnung, was sie im Sinn hat?«, fragte Laurence, der sie durch sein Fernglas hindurch beobachtete.
»Vielleicht ist sie verrückt geworden, weil sie schon wieder einen Weggefährten verloren hat«, schlug Temeraire vor. Er glaubte zwar nicht daran, aber er konnte sich auch nicht vorstellen, was sie sonst damit bezwecken wollte, ihr Brüllen aufs Wasser zu richten. »Das Wasser hat doch gar keine feste Gestalt; selbst wenn sie eine Schneise schlägt, laufen die Wellen doch sofort wieder zurück, also…« Er zuckte unsicher mit dem Schwanz. »Aber sie gelangt näher an die Schiffe heran«, fügte er hinzu, »also werden sie ohnehin bald in der Lage sein, auf sie zu feuern.«
Tatsächlich näherte sich Lien Stück für Stück den Schiffen, während sie noch immer die See anbrüllte, als hätte sie den Verstand verloren. Sie flog nun so tief, dass die Wellen beinahe bis zu ihrem Bauch emporschwappten und sich nach jedem Schrei auftürmten, als würden sie nach ihr greifen.
»Diese Wellen sind drei Meter höher als die sonstige Brandung«, sagte Laurence. »Mr. Allen, bitte geben Sie das Signal für die Schiffe: Sturmanker setzen , nicht in unserem Code, sondern in dem der Marine, ja, die rote Flagge, die weiße, dann die grüne und schließlich den roten Kreis. Temeraire, ich weiß nicht, was sie vorhat, aber ich
denke, wir können es nicht riskieren, sie einfach gewähren zu lassen. Flieg zu ihr hin, rasch!«
Temeraire hatte kaum den Auftrag abgewartet, schon schoss er freudig los. Die Wellen schienen doch nicht so hoch zu sein; sie würden nicht über den großen Schiffen zusammenschlagen, und er war lange genug auf dem Meer unterwegs gewesen, um zu wissen, dass die Schiffe auch mit noch viel höherer Brandung zurechtkommen würden. Aber wenn sie immer wieder von so vielen Wellen getroffen wurden, konnten sie vielleicht ihre Kanonen nicht richtig abfeuern, und Lien könnte nahe genug herangelangen, um den Göttlichen Wind auszustoßen.
Im Stillen interessierte ihn aber ohnehin nichts anderes, als dass er endlich die Chance hatte, gegen Lien zu kämpfen, die nichts getan hatte, als herumzusitzen und zuzusehen, wie alle anderen verletzt oder getötet wurden. Aber als er sich näherte, hörte Lien auf, den Wellen nachzufolgen, die sie hervorgebracht hatte. Stattdessen flatterte sie ungefähr ein Dutzend Flügelschläge zurück. Temeraire war nahe genug, um zu sehen, dass ihre Brust bebte und ihre Flügel zitterten. Sie war müde, und das verlieh Temeraire neuen Elan. Jetzt würde er sie besiegen können, denn sie würde nicht schnell genug fliehen können …
Lien blieb einen Moment lang in der Luft stehen und holte Luft, dann eilte sie wieder den Wellen hinterher. Knapp über der Wasseroberfläche glitt sie dahin und brüllte so laut, dass die Kanonen, die noch immer hinter Temeraire donnerten, von ihr übertönt wurden. Eine neue Welle schwoll vor ihr an, nicht so hoch wie die anderen, sondern flach und glatt, und rollte rasch davon. Erschöpft nach dieser Anstrengung verstummte Lien und hing zitternd in der Luft. Ihr Kopf baumelte schlaff herab, aber die Welle setzte sich weiter fort und holte andere Wellenberge ein. Dort, wo sie aufeinandertrafen, brachen die Wogen spritzend und stotternd zusammen, und eine nach der anderen verschmolz mit den anrollenden Massen.
Erschrocken fuhr Temeraire zurück. Beinahe ohne jede Vorwarnung hatte sich die Welle so hoch aufgetürmt, dass sie den Blick auf
Lien versperrte, und sie bewegte sich direkt in seine Richtung, sodass er sich nur mit Mühe aus dem Weg werfen konnte. Mit den Flügelspitzen spritzte er sich selbst Gischt ins Gesicht, als er gerade noch rechtzeitig abdrehte, ehe er von dem schwellenden Wellenkamm erfasst werden konnte. Zuerst hatte Temeraire vor, einfach noch höher zu steigen und die Woge zu überfliegen, aber ihm blieb keine Zeit mehr. Hinter ihm stieg eine dunkle, grünglänzende Wasserwand immer höher, die schließlich solche Ausmaße hatte, dass Schaum von oben nach unten perlte, und sie raste auf die Schiffe zu.
»Temeraire!«,
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