Drachenwacht: Roman (German Edition)
schrie Laurence, »Temeraire, kannst du sie brechen?«
Temeraire warf einen raschen Blick über die Schulter: Unaufhörlich schwoll die Welle an.
Er hatte noch nie etwas derart Riesiges gesehen, und ihm lief ein Schauder über den Schwanz. Einst hatten sie gemeinsam im Indischen Ozean einen Taifun überstanden; eine tosende Wolkenbank über ihnen, sodass er nicht fliegen konnte, und die Allegiance war mit jeder schrecklichen, sich aufbäumenden Welle aufgestiegen und auf der anderen Seite mit atemberaubender Geschwindigkeit wieder hinabgesunken. Aber das war etwas ganz anderes, Unbedeutenderes gewesen als diese monströse Welle, die Lien durch ihren Göttlichen Wind heraufbeschworen hatte. Natürlich würde er sie dann auch brechen können.
Trotz dieser enormen Größe rollte die Woge schnell und gespenstisch lautlos auf sie zu, und die unruhige See glättete sich vor ihr wie niedrige Höflinge, die sich vor einem vorbeigehenden Monarchen verneigen. Mit hektischen Flügelschlägen kämpfte sich Temeraire davon und versuchte, ein wenig Raum gutzumachen, um sich umdrehen zu können. Die Schiffe waren nun so nah, dass er ihre Namen am Bug sehen konnte, und er entdeckte Männer in der Takelage und auf den Decks, die wie Ameisen herumwuselten. Temeraire tropfte von der Gischt, und das Wasser strömte von seinen Flügeln, als er immer weiter auf sie zuflog. Er konnte keinen Auftrieb bekommen,
er hatte keine Zeit, Atem zu holen, aber er hatte so viel Vorsprung gewonnen, wie es nur möglich war, drehte sich jetzt um und brüllte mit aller Macht.
»O Gott, hab Erbarmen«, stöhnte Laurence oder glaubte, dies gesagt zu haben, als er sich das Salz aus den Augen wischte und sich umsah.
Temeraire hatte ein Loch in die Welle gebrochen: einen großen, ausgefransten Fleck, der einen Moment lang wie ein Fenster offen stand, und dort hindurch konnte man einen kurzen Blick auf die Flotte werfen: Dort lag die Victory mit ihren Fahnen, und die gesamte Schlachtreihe mit ihren weißen Segeln glänzte wie Perlen vor dem Hintergrund der Farbe des Meeresunwetters. Und dann brach das Verhängnis über sie herein.
Die große Neptun , die mit der Breitseite zur Flutwelle gelegen hatte, feuerte ihre Kanonen mit einem goldflammenden Donnern ab, ehe sie getroffen wurde, und es war ein letzter Schuss der Verzweiflung, dann war sie verschwunden. Die Schiffe, die der Welle entgegensahen, kletterten die Wellenwand empor, ihre Vorderteile fügten dem Monster Risse zu, die bleich wie Meeresschaum waren und rasch nur noch die Größe von Nadelstichen hatten, bis die Schiffe sich nach und nach in Wasserfällen weißer Gischt überschlugen und von der grünen Masse verschlungen wurden.
Die Welle schob sich weiter den Kanal entlang und lief langsam aus, wie eine Schulter, die ein Riese gezuckt hatte, und die sich nun wieder senkte. Ein einziges der Linienschiffe, die Superb , wurde noch von ihrem Anker gehalten; alle Maste waren abgeknickt, und Wasser drang an den Seiten ein. Zwei Fregatten, die ihre Anker rechtzeitig geworfen hatten, ragten senkrecht aus dem Wasser und kämpften noch eine Weile darum, sich wieder zu legen, ehe auch sie sanken. Ein paar vereinzelte menschliche Flecken klammerten sich an Wrackteile. Von vierzehn Linienschiffen war nichts mehr übrig – wie von Sandburgen, die von der Flut fortgespült worden waren.
Niemand sagte etwas, die Kanonen schwiegen. Selbst die vereinzelten Nahkämpfe ruhten. In dieser Stille näherten sich nun die letzten französischen Drachen, die mit einem verzweifelten Ausfall in Pfeilspitzenformation in die Lücke gestoßen waren, und die Garde rannte ihnen mit Napoleon in ihrer Mitte entgegen.
»Temeraire!«, schrie Laurence, und ein durchdringendes Trompetensignal blies Alarm. Temeraire strengte sich an, um sich mühevoll umzuwenden und den anderen Drachen etwas zuzurufen, und schon hob ein kleiner, wendiger Chasseur-Vocifère vom Boden ab, Napoleon auf dem Rücken.
Temeraire schoss der Gruppe hinterher, aber vier der französischen Drachen drehten sich um und stellten sich ihm. Es waren Pêcheur-Rayés – kleinere, aber tapfere Tiere, die um sich schlugen und kreischten, egal, wie sehr ihnen selbst zugesetzt wurde. Ballista schoss heran und peitschte mit ihrem Schwanz über die Köpfe der französischen Drachen, und Requiescat kam ihr zu Hilfe. Er brüllte voller Zorn, aber der Chasseur war schon davon und floh über den Kanal. Dahinter waren fünf andere, beladen mit Dutzenden Männern der
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