Drachenwege
damit nicht sagen, dass sie etwas spürt, so wie ich. Aber vielleicht kann sie mit ihren überempfindlichen Augen etwas sehen.«
»Hitze kann man doch nicht sehen«, hielt Kindan ihr entgegen.
»Woher willst du das wissen? Mit ihren großen Augen sieht sie selbst im Stockfinstern, wo kein Mensch mehr etwas erblicken könnte.«
»Das ist etwas völlig anderes«, meinte Kindan.
Nuella wiegte bedächtig den Kopf. »Da bin ich mir nicht so sicher. Möglicherweise sieht sie ja gar kein Licht, sondern Wärme. Deshalb meidet sie den hellen Tag, weil sich draußen alles aufheizt und es ihr vor-kommt, als schaute sie direkt in die pralle Sonne.«
»Eine höchst interessante Theorie«, sagte plötzlich eine Männerstimme.
* * *
In dieser Nacht kontrollierte Renna den Ausguck auf dem Berggipfel. Sie war sehr stolz gewesen, als sie Kindans Aufgaben übernahm, weil der sich um den Wachwher kümmern musste. »Du bekommst die Stelle nicht, weil du Zenors Schwester bist«, hatte er ihr erklärt, als der Tausch stattfand. »Sondern, weil wir dich für zuverlässig halten. Ich bin fest davon überzeugt, dass du deine Sache sehr gut machen wirst.«
Renna wusste, dass sie sich bewährt hatte. Nun war sie dafür verantwortlich, die Wachen einzuteilen und dafür zu sorgen, dass jeder zum richtigen Zeitpunkt beim Ausguck erschien. Sie machte sich die Sache nicht leicht. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf, war beunruhigt und ging zur Sicherheit nachschauen, ob der Aussichtsposten besetzt war. Sie fand, die jüngeren Leute müsse man überprüfen. Und nicht selten ertappte sie jemanden, der im Gras lag und eingenickt war. Dann machte sie sich eine Freude daraus, sich an den Schläfer heranzupirschen und ihm laut ins Ohr zu schreien.
Meistens waren es die Knaben, und nicht die Mädchen, die während ihres Dienstes eindösten.
Zur Zeit befand sie sich allein auf der Anhöhe, denn Jori, die eigentlich den Posten besetzt halten sollte, trödelte über ihrem Abendessen. Das machte Renna jedoch nichts aus. Sie genoss es, spätabends beim Ausguck zu sein. In der stillen, klaren Luft drangen die Geräusche aus dem Tal bis hier herauf, und sie konnte beinahe jedes gesprochene Wort verstehen, weil es von den hohen Felswänden zurückgeworfen wurde. Unter ihr breitete sich der See aus und bot einen spektakulären Anblick; droben am Firmament funkelte ein Meer aus Sternen.
Als plötzlich zwei Drachen über dem See erschienen, sprang Renna vor Freude in die Luft. Es waren mächtige Tiere, so riesige Geschöpfe hatte Renna noch nie gesehen. Sie waren viel größer als Kisk, Kindans Wachwher, und hübscher waren sie auch. In ehrfürchti-gem Staunen beobachtete sie die Drachen, die über die Siedlung schwebten und dann auf der Hügelflanke landeten, in der sich weiter oben der Eingang zur Mine befand.
Sie hörte, wie ein Mann fragte: »J'lantir, bist du dir auch ganz sicher?«
Die beiden Drachenreiter saßen ab. Ihre Reittiere erhoben sich wieder in die Luft, steuerten den See an und stürzten sich mit geradezu erschreckendem Enthusias-mus in die Fluten. Sie blieben so lange unter Wasser, dass Renna schon befürchtete, sie könnten ertrunken sein. Doch dann tauchten sie auf und dümpelten wie große hölzerne Flöße auf den Wellen. Renna fröstelte.
Die Nacht war kalt - Drachen mussten eine ziemlich dicke Haut haben, wenn sie bei diesen Temperaturen ins Wasser gingen. Aber vielleicht kamen sie auch aus einer Gegend mit einem tropischen Klima und genossen die Abkühlung.
»Lolanth spürte eine starke Präsenz«, antwortete der andere Reiter, J'lantir. »J'trel könnte uns Genaueres verraten, M'tal, aber ich tippe darauf, dass hier ein junges Mädchen wohnt, welches sogar einen goldenen Drachen für sich gewinnen könnte. Allerdings ...« Die Stimme klang zweifelnd und brach ab.
»Was ist? Sprich dich ruhig aus«, forderte der Reiter, der M'tal genannt wurde, seinen Kameraden auf.
»Nun ja, Lolanth teilt mir mit, dass dieses Mädchen in konstanter Dunkelheit lebt«, fuhr M'tal perplex fort.
»Ob das Mädchen gefangen gehalten wird? Schwebt sie vielleicht in Gefahr?«
»Ich weiß es nicht. Lolanth glaubt, das Mädchen hat schon seit langer Zeit kein Licht mehr gesehen«, gab J'lantir zurück.
»Könnte es sein, dass sie blind ist?«
»Das könnte es sein«, pflichtete JTantir ihm bei. »Ein Jammer, wenn jemand ein so großes Talent zum Drachenreiter besitzt und nicht in der Lage ist, es zu nutzen.«
Die Stimmen wurden leiser,
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