Dracula, my love
erzählt hat. Hat er Ihnen auch etwas über sein eigenes Leben berichtet?“
„Kein einziges Wort“, erwiderte Jonathan.
„Er behauptet, Graf zu sein“, sagte Dr. van Helsing, „aber natürlich muss er für jede neue Generation auch eine neue Geschichte erfinden.“
„Wer waren die drei schrecklichen Frauen in der Burg?“, wollte Jonathan wissen. „Seine Vampirbräute?“
„Das vermute ich“, antwortete der Professor.
„Sie sagten, dass Graf Dracula mächtiger ist als andere Vampire“, hob Lord Godalming an. „Wie ist das gekommen?“
„Wir wissen es nicht. Vielleicht wird die Macht eines Vampirs größer, je älter er wird.“
Während die letzten Sätze gesprochen wurden, bemerkte ich, dass Herr Morris unverwandt aus dem Fenster starrte. Plötzlich stand er auf und eilte aus dem Zimmer. Der Professor schaute ihm neugierig nach, fuhr dann aber fort: „Genug geredet. Sie wissen jetzt, mit wem wir es zu tun haben. Unser Gegner ist mächtig; aber auch wir sind nicht völlig machtlos. Wir haben sechs Gehirne, er nur eines. Uns stehen wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verfügung. Und, was vielleicht am wichtigsten ist, wir haben uns selbstlos dieser Sache verschrieben, die keine bösen oder selbstsüchtigen Zwecke verfolgt. Allein aus diese Grunde glaube ich, dass wir Erfolg haben werden, denn Gott steht auf unserer Seite. Nun müssen wir unseren Feldzugsplan entwickeln und das Ungeheuer finden und zerstören. Ich schlage vor, wir beginnen mit den Erdkisten des Grafen. Sobald wir uns vergewissert haben, wie viele dieser Kisten sich noch in jenem Haus hinter der Mauer befinden ...“
Da hörte man plötzlich von draußen einen Pistolenschuss und das Zersplittern von Glas. Eines der Fensterscheiben im Studierzimmer war zerschmettert. Ich schrie laut. Die Männer sprangen auf. Lord Godalming riss das getroffene Fenster auf.
„Entschuldigen Sie!“, hörten wir von außen Herrn Morris' Stimme. „Geht es allen gut?“ Als Lord Godalming das bejahte, rief Herr Morris: „Ich komme gleich herein und berichte Ihnen.“ Im nächsten Augenblick trat er ein und erklärte: „Ich fürchte, ich habe Sie erschreckt. Aber während Sie redeten, Herr Professor, sah ich eine große Fledermaus, die auf der Fensterbrüstung landete.“
„Eine Fledermaus!“, rief Dr. van Helsing.
„Eine sehr große Fledermaus. Ich habe einen solchen Abscheu vor diesen Tieren und dachte, es könnte Dracula selbst sein. Also musste ich hinaus und einen Schuss darauf abfeuern.“
„Es muss der Graf gewesen sein!“, antwortete Dr. van Helsing. „Zweifellos hat er uns belauscht. Haben Sie die Fledermaus getroffen?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, denn sie flatterte davon, au f den Wald zu.“
„Hier ist die Kugel, sie steckt in der Wand“, stellte Jonathan fest.
„Bitte entschuldigen Sie“, sagte Herr Morris mit schamrotem Gesicht. „Das war idiotisch von mir. Ich hätte leicht jemanden töten können.“
„Aber die Fledermaus hätten Sie nicht getötet“, erklärte der Professor feierlich. „Eine Kugel hätte sie verletzt, und es wäre Blut geflossen, aber gestorben wäre sie nicht. Denn das Wesen, das von der Fledermaus Besitz ergriffen hat, ist ja ein Untoter.“
Als wir uns alle nach dem Vorfall beruhigt und wieder hingesetzt hatten, kehrte Dr. van Helsing zum Thema zurück. Seiner Meinung nach wäre es jetzt das Beste, den Grafen Dracula während des hellen Tages zu fangen oder zu vernichten, wenn er Menschengestalt angenommen hatte und am schwächsten ist. „Wenn wir Glück haben, finden wir ihn morgen in seinem Versteck im Nachbarhaus.“
„Ich schlage vor, wir besichtigen jetzt gleich das Haus da drüben“, sagte Herr Morris.
„Nein“, erwiderte der Professor. „Das ist zu gefährlich. Bei Nacht sind seine Kräfte zu groß. Und wenn diese Fledermaus wirklich Graf Dracula war, dann weiß er, dass wir seine Vernichtung planen.“
„Aber ein Zeitgewinn ist hier alles“, warf Dr. Seward ein. „Wenn wir rasch handeln, vermögen wir ihm vielleicht noch einige Opfer zu entreißen.“
„Professor“, fügte Jonathan hinzu, „Sie haben gesagt, wenn wir seine Erde mit einem geheiligten Gegenstand sterilisieren, wird sie für ihn wohl nutzlos. Das stimmt doch?“
„Das ist richtig, Freund Jonathan.“
„Dann sage ich, gehen wir jetzt gleich hinüber, noch heute Nacht, und machen alle Kisten unbrauchbar, die wir finden können. Wenn wir dem Ungeheuer begegnen, dann soll es so sein. Wir nehmen
Weitere Kostenlose Bücher