Dracula, my love
mag mich nicht, und er hat sich mir in den Weg gestellt.“
„Wie das?“, erkundigte ich mich.
„Er denkt, dass ich einem seltsamen Glauben anhänge. Und vielleicht stimmte das auch. Ich bildete mir ein, dass man durch das Verzehren lebender Wesen, ganz gleich, wie tief sie auf der Stufe der Schöpfung auch stehen, sein Leben bis ins Unendliche würde verlängern können. Manchmal war der Glaube daran so stark in mir, dass ich tatsächlich den Wunsch hatte, mir ein Menschenleben einzuverleiben. Ich erhoffte durch das Medium des Blutes eine Verschmelzung von seiner Kraft mit meinem Leibe, denn wie die Bibel sagt: Das Blut ist Leben. Allerdings hat der Verkäufer eines gewissen Geheimmittels - genau genommen handelt es sich dabei um Clarkes weltberühmten Blutreiniger - diese Erkenntnis nun verächtlich zu einem lächerlichen Werbespruch herabgewürdigt. Das stimmt doch, Herr Doktor?“
Auch ich nickte, weil ich das Mittel kannte, auf das er sich bezog. Gleichzeitig war ich höchst verwundert über seine vornehme und vernünftige Art. Allerdings zeigte mir der Inhalt seiner Rede nur zu deutlich seinen Geisteszustand, aus dem ich meinen Vorteil zu ziehen hoffte. „Herr Renfield, Sie sagten, dass Dr. Seward sich Ihnen in den Weg gestellt hat. Beziehen Sie sich damit auf die verschiedenen Zeiten, als Sie versucht haben, diese Einrichtung zu verlassen, und er Sie zurückbrachte?“
„Ja, und darauf, dass er mir kein Kätzchen geben will.“
Da ich um die Vorliebe des Patienten für den Verzehr lebendiger Kreaturen wusste, überging ich diese verstörende Bemerkung und fuhr fort: „Ich habe mir sagen lassen, dass Sie zum Nachbargrundstück gerannt sind. Können Sie mir sagen, warum Sie das gemacht haben?“
Er zögerte. „Ich habe den Meister gesucht.“
„Wer ist denn der Meister?“
Furcht stahl sich in seine Stimme. „Seinen Namen kenne ich nicht. Ich habe ihn nie gesehen. Ich spüre nur seine Gegenwart. Er kommt und geht.“
„Wie spüren Sie seine Gegenwart? Woran merken Sie, dass er kommt und geht?“
„Darüber möchte ich nicht sprechen.“ Plötzlich wirkte Herr Renfield ängstlich und bestürzt. „Hören Sie auf, darüber zu reden. Ich glaube inzwischen, dass es ein Fehler war, den Meister wissen zu lassen, dass ich hier bin. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht!“
„Warum nennen Sie ihn den Meister?“
Herr Renfield starrte mich erregt an. „Warum stellen Sie mir all diese Fragen? Ausgerechnet Sie! Sie kennen doch den Meister besser als ich!“
„Ich?“, antwortete ich überrascht. „Ich kenne ihn überhaupt nicht.“
„Aber sicher! Sie kennen ihn, Frau Harker. Gewiss! Gewiss!“
„Also, nun reicht es! Das Gespräch ist beendet“, fuhr Dr. Seward dazwischen, packte mich am Arm und führte mich zur Tür.
„Auf Wiedersehen, Herr Renfield“ sagte ich.
„Auf Wiedersehen.“ Als sich die Tür hinter mir schloss, hörte ich ihn unerwartet rufen: „Ich flehe zu Gott, dass ich Ihrem hübschen Gesicht nie wieder begegne! Er segne und behüte Sie.“
Nach meinem Treffen mit Herrn Renfield war ich äußerst verstört. Es schien mir, als hätte der Patient tatsächlich eine seltsame Verbindung zu diesem Wesen, das er „Meister“ nannte, selbst wenn er diese Verbindung nicht verstand, und der „Meister“ konnte niemand anderer sein als Graf Dracula. Seine Zusicherung, dass ich den „Meister“ kannte, war mir jedoch ein Rätsel. Wollte er mir damit bedeuten, dass ich den Grafen Dracula kannte, weil ich in den letzten Tagen so viel über ihn erfahren hatte? Oder bezog er sich auf das einzige Mal, als ich Dracula am Piccadilly beobachtet hatte? Ich teilte Dr. Seward meine Überlegungen mit, und der versicherte mir, dass diese Aussage nur unterstrich, dass Herr Renfield erwiesenermaßen ein Irrer war.
Jonathan kehrte schon bald von seinen Erkundungen zurück, die bisher wenig erfolgreich gewesen waren. Dr. Seward holte Dr. van Helsing vom Bahnhof ab. Der Professor war begeistert von der Arbeit, die Jonathan und ich getan hatten. Er bat mich, weiterhin Informationen zu sammeln und sie mit der Maschine aufzuzeichnen, sobald sie hereinkamen. Damit hätten wir stets alle Fakten in der genau richtigen Reihenfolge und auf dem neuesten Stand vorliegen. Nach einem eilig eingenommenen, frühen Abendessen sah er die Aufzeichnungen durch, die ich in der Nacht zuvor geschrieben hatte.
Um acht Uhr am Abend trafen wir alle sechs in Dr. Sewards Studierzimmer zu einer Art Kollegium zusammen.
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